Zusammenfassung
Zu Beginn dieses Buches soll eine junge Frau zu Wort kommen (▶ Kasten „Kurzgeschichte: Der andere Tiger“), die ich 2009 kennengelernt habe. Die damals 19-jährige Patientin tat sich im Rahmen einer stationären Behandlung zunächst sehr schwer, den therapeutischen Raum für sich zu nutzen und sich aus ihrem idealisierten Rückzugsarrangement herauszuwagen.
„Es dürfte so um das Abi herum gewesen sein. Da fiel der Startschuss zu unserer Verpassens- und Versagensangst. Da eröffnete sie sich zum ersten Mal vor unseren Augen: die große, endlos weite Fläche. Offen, horizontlos, infinit lag sie plötzlich da. Zukunft, so lautete dieses Neuland. Eine unangenehme, zu gestaltende weiße Leere. Ohne einen einzigen Farbtupfer, ohne Begrenzungen, Zwänge, Zäune, Hindernisse. Wir nahmen all unseren Mut zusammen und betraten, zögerlich, das weiße kühle Glatteis des Noch-Nichts.“
Nina Pauer
Zu Beginn dieses Buches soll eine junge Frau zu Wort kommen (▶ Kasten „Kurzgeschichte: Der andere Tiger“), die ich 2009 kennengelernt habe. Die damals 19-jährige Patientin tat sich im Rahmen einer stationären Behandlung zunächst sehr schwer, den therapeutischen Raum für sich zu nutzen und sich aus ihrem idealisierten Rückzugsarrangement herauszuwagen.
Die von der Patientin verfasste Kurzgeschichte skizziert und verdichtet eine Vielzahl spätadoleszenter Phänomene. Ein Nebeneinander von hoher (hier gestalterischer) Kompetenz, beeindruckender Unmittelbarkeit, tiefen Selbstzweifeln und Identitätsunsicherheit wird ebenso deutlich wie Grandiositätsfantasien im Dienste der Vermeidung von Entwicklung, die kompensierende Funktion von Tagträumen und die Idealisierung der eigenen Rückzugsorganisationen . Außerdem wird ein häufig erkennbares Ringen sichtbar, das junge Menschen mit Entwicklungsschwierigkeiten aufweisen, ein ständiges Oszillieren zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen progressiven und regressiven Tendenzen, zwischen dem Versuch der Aneignung des eigenen Körpers, der eigenen Geschlechtlichkeit und dessen befürchtetem Scheitern, zwischen Rückzug in eine Tagtraumwelt und dem Versuch, sich in der Realität zurechtzufinden, zwischen dem kritisch-ängstlichen Blick auf sich selbst und dem schaminduzierenden Blick der anderen.
Kurzgeschichte: Der andere Tiger
Sie ist stark, schnell, ausdauernd. Genau wie die anderen Tiger hier im Gehege. Sie sind alle ungefähr im selben Alter. Noch nicht ganz ausgewachsen, aber bald alt genug, um eigene Wege zu gehen. Endlich raus in die Freiheit zu kommen. Sie sind nämlich alle in einem Auswilderungsgehege aufgewachsen.
Wenn man die Tiger hier alle so betrachtet, fällt eigentlich gar nicht auf, dass eine Tigerin anders ist. Aber trotzdem ist sie irgendwie anders. Sie versteht sich gut mit den anderen, sie mögen sie und sie mag die anderen eigentlich auch. Aber dennoch ist sie oft gerne allein. Wenn sie gerade nicht jagt, sondern einfach nur der Sonne liegt, denkt sie nicht wie die anderen Tiger über die nächste Beute nach. Sie denkt über ganz andere Sachen nach. Sie träumt sich in ihre eigene Welt oder denkt über sich und ihr Leben nach. Sie kann natürlich nicht wissen, dass die anderen sich nicht solche Gedanken machen wie sie – man kann Gedanken nicht lesen – aber manchmal merkt sie, dass sie irgendwie anders ist.
Wie alle Tiger hier träumt auch sie von der Weite Afrikas. Es muss toll sein, alleine durch die endlose Savanne zu ziehen, völlig frei zu sein, kein Zaun, der einen umgibt. Sie will genauso wie die anderen endlich ausgewildert werden, und bald ist es wahrscheinlich auch so weit. Sie träumt davon, endlich allein zu sein, denn das braucht sie. Sie kann so eingesperrt nicht länger leben.
So denkt sie oft, wenn sie in der Sonne vor sich hin döst. Genauso wie alle anderen Tiger hier drinnen auch. Aber es ist nicht genauso. Manchmal erkennt sie das selber. Und dann macht es ihr Angst. Dann erkennt sie nämlich, dass diese Träume, so wie sie sich das mit der Freiheit vorstellt, für sie, im Gegensatz zu den anderen, völlig unrealistisch sind. Dass sie sich nur einredet, dass sie in die Freiheit will, alleine sein will, weil sie erwachsen wird. In Wirklichkeit hat das bei ihr ganz andere Gründe, und diese Gedanken machen ihr Angst.
Anders als die anderen Tiger macht sie sich nämlich nicht nur Gedanken, wie sie ihre Beute erlegen kann, sondern auch, wie sie sich selbst schaden kann. Irgendetwas in ihr will sie am liebsten zerstören. Vielleicht nicht völlig, aber ihr zumindest schaden. Vielleicht auch nur, um danach die Wunden wieder heilen zu lassen. Sie weiß es nicht. Aber sie weiß, dass sie in Wirklichkeit nicht ausgewildert werden will, weil sie die Freiheit braucht, sondern weil sie sich dann zum Beispiel ungestört in die Sonne legen kann und warten, bis sie verhungert ist. Oder sich kurz davor dann vielleicht doch mit letzter Kraft zurück in ihr Gehege schleppen und von den Wärtern wieder aufpäppeln lassen kann. Um Kraft zu sammeln, bis sie sie wieder in die Wildnis lassen und sie sich wieder weiter zerstören kann.
Die Tigerin weiß, dass das ihre eigentlichen Pläne sind. Aber sie weiß, dass das nicht normal ist, und sie weiß nicht, warum sie solche Gedanken hat. Sie will solche Gedanken nicht haben. Deshalb versucht sie sich immer wieder einzureden, dass sie die Freiheit braucht, weil es ihr dann besser geht, und dass sie alt genug ist, für sich allein zu sorgen. Das sagt sie natürlich auch den anderen. Sie kann ihnen ja schlecht sagen, dass sie sich nur selbst zerstören will. Dann würden sie sie auch nie gehen lassen. Und wenn die anderen es wüssten, wäre es für sie ja noch schwerer, das selbst zu verdrängen. Sie will diese Gedanken doch nicht haben. Sie will glauben können, dass sie ganz normal ist, bald ausgewachsen sein wird und dann alleine für sich sorgen kann. Dann könnte alles so einfach sein.
Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen sie merkt, dass sie anders ist. Beziehungsweise eigentlich weiß sie gar nicht, wie sie wirklich ist, weil sie sich so viel Mühe gibt, normal zu sein, und immer nur das macht, von dem sie denkt, dass andere Tiger das auch so machen würden, ohne wirklich zu wissen, ob sie das eigentlich selber auch will. Sie sagt, dass sie die Freiheit will. Sie sagt, dass sie sich dort ein tolles Tigermännchen suchen will. Sie sagt, dass sie gerne mit anderen Tigern zusammen ist und oft nur so alleine in der Sonne liegt, weil sie so schüchtern ist, aber das ändern will. Sie sagt, dass sie ausgewildert werden will, um ihre eigene Wege zu gehen. Sie sagt solche Sachen, weil sie denkt, dass andere so etwas wollen würden, und sie will doch auch einfach normal sein. Aber in Wirklichkeit will sie nicht in die Freiheit, weil die Freiheit sie überfordert. In Wirklichkeit will sie sich kein Tigermännchen suchen, weil sie nicht versteht, was sie damit machen soll und was andere so anziehend an den Männchen finden. In Wirklichkeit will sie nicht mit anderen zusammen sein, sondern will nur alleine sein, weil sie da nicht so tun muss, als wäre sie normal. In Wirklichkeit weiß sie gar nicht, was ihre eigenen Wege wären. Sie versucht immer nur, die Verhaltensweisen der anderen zu verstehen, zu lernen und nachzumachen, um nicht aufzufallen. Aber sie kann nie einfach sie selbst sein. Sie weiß gar nicht, was sie machen würde, was sie wollte, wenn sie mal nicht versuchen würde, wie die anderen zu sein. Deshalb muss sie weiter versuchen, sich wie die anderen zu verhalten, weil sie nicht weiß, was sie sonst machen sollte.
Letztens zum Beispiel kam ein Tigermännchen zu ihr. Sie wusste, dass er sich jetzt mit ihr paaren will, sie hatte das schon oft genug bei anderen Tigern gesehen. Sie hat auch schon oft gehört, wenn andere Tiger darüber geredet haben. Sie hat das alles aufgenommen und sich in Gedanken eine Vorstellung davon gemacht, wie es sich anfühlen könnte. Sie dachte, dass irgendwelche tollen Gefühle aufkommen, dass man sich voll auf den Sex konzentriert und alles andere ausblenden kann, dass es sich irgendwie gut anfühlt und man das will. Aber bei ihr kamen solche Gefühle nicht. Es war nicht unangenehm, aber es war auch nicht weiter toll. Es war einfach so, wie es war, sie hat alles mit sich machen lassen und es war ihr einfach gleichgültig. Sie konnte nicht mal sagen, ob sie das jetzt eigentlich will oder nicht. Sie hat auch nicht verstanden, was das Männchen daran toll fand. Sie zumindest hatte überhaupt kein Gefühl dazu. Es hat sich nur irgendwie richtig angefühlt, weil sie dachte, dass andere so was auch machen und es schön finden. Aber im Nachhinein fühlte es sich eigentlich ziemlich falsch an, weil sie ja nicht einmal weiß, ob sie das wollte oder nicht. Sie hat einfach mitgemacht, ohne zu wissen warum, einfach nur, weil sie dachte, dass es normal ist, und sie will doch auch normal sein.

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