Abb. 13.1
Checkliste Patientenaufklärung. (Mod. nach Good clinical practice)
13.1.2 Nutzen-Risiko-Bewertung
Die Abwägung zwischen den Nutzen einer Studie für Teilnehmer bzw. die Allgemeinheit und den individuellen Risiken ist abhängig von der Perspektive des Beurteilers. Im Folgenden werden die Perspektiven von Erkrankten, Forschern, Klinikern und Herstellern von medizinischen Produkten dargestellt.
Schizophren Erkrankte
Studien zur Beurteilung wissenschaftlicher Studien aus Sicht schizophren Erkrankter sprechen für eine grundsätzlich offene und positive Einstellung und ein Verständnis ethischer Probleme bei schizophren Erkrankten [47]. Patienten einer Studie zu Bedingungsfaktoren für Suizidalität nannten 5 zentrale Motive, die sie mit der Studienteilnahme in Verbindung brachten [58]: Altruismus, Teilnahme an Forschung als wertvolle/nützliche Beschäftigung, erhoffter therapeutischer Effekt, unterhaltsame Erfahrung, aber auch negative Effekte, wie z. B. Ermüdung oder Belastung durch die Studie. Negative Themen waren aber mit 2,5 bis 12,5 % weit seltener vertreten als positive Themen, die 45,6 bis 60,8 % der Antworten ausmachten. Bei den meisten befragten Patienten gingen eigene negative Erfahrungen jedoch nicht mit einer generellen negativen Einstellung zur Forschung einher. Roberts et al. [48] haben schizophren erkrankten Patienten und Psychiatern ein hypothetisches Studienprotokoll, das mit einem hohen Risiko assoziiert ist, vorgelegt. In diesem Szenario erlebt der hypothetische Patient nach einer Auswaschphase der Medikation eine Exazerbation der Positivsymptome in Form von Stimmenhören und verweigert jede Medikation. Patienten haben die Studie im Durchschnitt als moderat gefährdend eingeschätzt und nach einer einfachen Entscheidung die Teilnahme abgelehnt. Interessanterweise haben Patienten die Verabreichung der Medikation gegen den Willen des Patienten als akzeptabel bzw. notwendig beurteilt und das Wohl des Patienten wichtiger als seine Autonomie eingeschätzt. Psychiater hingegen haben bei dieser Fragestellung den Fokus auf Beziehungsaufbau und Überzeugung gesetzt [48]. Die Befragung von Patienten hinsichtlich ethisch relevanter Themen wie z. B. Einschluss, Einwilligung und Debriefing erscheint als ein wichtiger Schritt zur Optimierung des wissenschaftlichen Handelns an dieser vulnerablen Population [46].
Arzt und Forscher
In der klinischen Forschung besteht häufig eine Doppelrolle als behandelnder Arzt und als Forscher. Dies impliziert die Gefahr der Nutzung des Vertrauens in den behandelnden Arzt für die verfolgten wissenschaftlichen Ziele. Seinen Arzt möchte der Patient nicht durch eine Absage enttäuschen [60]. Eine Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses und manipulative Taktiken unterminieren das Arzt-Patienten-Verhältnis [6]. Vor diesem Hintergrund kann sich ein besonderes Problem in Bezug auf die Abwägung des individuellen Nutzens gegenüber dem Aufwand und den Risiken der Studie aus dem Umstand ergeben, dass die Studie und die klinische Behandlung des Patienten im gleichen klinischen Setting durchgeführt werden oder die Behandlung sogar vollständig im Rahmen der Studie durchgeführt wird. Damit fällt es Patienten schwer, zwischen wissenschaftlichen Motiven der Studie und der therapeutisch indizierten klinischen Behandlung zu unterscheiden. Dies kann zu dem Missverständnis führen, die klinische Behandlung sei zwingend an die Studienteilnahme gekoppelt. Dieses Phänomen des „therapeutischen Missverständnisses “ (therapeutic misconception) ist weit verbreitet (Abschn. 4.1) und betrifft auch nichtpsychiatrische Populationen [17]. Bei schizophren erkrankten Patienten konnte gezeigt werden, dass etwa ein Drittel der Patienten eine klare Unterscheidung zwischen klinischer Behandlung und wissenschaftlichem Vorgehen treffen kann und sich bewusst ist, dass die Studienteilnahme unter Umständen weniger ihrem individuellen Vorteil, sondern der Gesellschaft und dem wissenschaftlichen Fortschritt dient. Die restlichen zwei Drittel haben mindestens eine Frage eines Fragebogens zur Einschätzung des therapeutischen Missverständnisses falsch beantwortet. Dabei korrelierte die Ausprägung des therapeutischen Missverständnisses in diesem Fragebogen positiv mit den Verständnisskalen des MacCAT-CR und mit neuropsychologischen Defiziten [20]. Zur Behebung solcher Fehleinschätzungen haben sich wiederum edukative Interventionen als sinnvoll erwiesen, die die Unterschiede zwischen Forschung und therapeutischer Behandlung klar vermitteln [17] und Unklarheiten während der Aufklärungsprozedur vermeiden, die häufig die Ursache des therapeutischen Missverständnisses darstellen [62].
Studienentwicklung oder eine Entscheidung zur Teilnahme an einer klinischen Studie bei Schizophrenie orientiert sich aus der Sicht des Forschers an der Einschätzung der Sicherheit unter Berücksichtigung des individuellen Nutzens für die Studienteilnehmer und an der Relevanz der wissenschaftlichen Fragestellung. Das Votum der Ethikkommission schützt den Forscher durch die Unabhängigkeit der Beurteilung. Eine realistische Aussicht auf Erreichung des Studienziels muss gegeben sein und es dürfen keine Alternativen zur Erreichung dieses Zieles mit deutlich geringeren Risiken für die Patienten bestehen [60]. Hierbei sollten die Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft nicht Vorrang haben vor Erwägungen über die möglichen Risiken und den wahrscheinlichen Nutzen für die Versuchsperson [1].
Klinische Mitarbeiter
Eine weitere wichtige Perspektive vertreten überwiegend klinisch tätige Mitarbeiter , die oft eine eher negative Haltung gegenüber wissenschaftlichen Studien haben. Insbesondere bei der Durchführung von verblindeten pharmakologischen Studien werden wissenschaftlich tätige Ärzte skeptisch von klinischen Mitarbeitern beurteilt. Es steht eine latente Unterstellung unethischen Handelns im Raum. Die Studiendurchführung und Rekrutierung wird zum Teil subtil durch klinisches Personal behindert. Da der Wissenschaftler meist gleichzeitig auch Kliniker ist, unterliegt auch er dem Eindruck, sich zwischen klinischem Management zum Wohle des Patienten und der Behandlung im Rahmen einer Studie mit wissenschaftlicher Zielsetzung entscheiden zu müssen. Dabei unterliegt er häufig der Fehleinschätzung, dass durch eine Studienteilnahme eines schizophrenen Patienten in der Regel ein klinischer Nachteil entsteht, da er im Behandlungsverlauf auf den laut Studienprotokoll vorgegebenen „Behandlungskorridor“ aus vorgegebener Dosierung der Studienmedikation sowie zulässiger und nicht zulässiger Begleitmedikation beschränkt wird. Hierbei hat der Arzt nicht im Blick, dass eine auf Erfahrung basierte Behandlung mit der Gefahr von Polypharmazie und weiteren Nachteilen verbunden ist, der Patient häufig nach der Behandlung die Medikation nicht mehr einnimmt und es an einer intensiven Begleitung der Behandlung fehlt. Die klinischen Vorteile der Behandlung im Rahmen einer kontrollierten Studie sind andererseits nicht ausreichend bewusst. Hierzu gehört das intensive Monitoring, die zusätzlichen ärztlichen oder auch psychologischen Gespräche, die Nachuntersuchungen im ambulanten Verlauf der Studie, die zu einer besseren Überwachung der Wirksamkeit und Verträglichkeit der Behandlung führen und die Behandlungstreue erhöhen. Die Vorenthaltung des Angebotes einer Studienteilnahme kann damit auch eine Art Entmündigung des Patienten darstellen.
Pharmaunternehmen
Schließlich ist auch die Rolle der pharmazeutischen Industrie hinsichtlich der Auswahl von Forschungsprojekten kritisch zu diskutieren. Insbesondere Arzneimittelstudien sind oft von Pharmaunternehmen gesponsert, die das Interesse verfolgen, die Wirksamkeit der eigenen Substanz nachzuweisen [37], [53].
13.2 Spezifische Probleme der klinischen Forschung
Im Folgenden werden exemplarisch Probleme der Einschätzung der Einwilligungsfähigkeit, der Aufklärung und der Nutzen-Risiko-Analyse aus der Sicht von Probanden und Forschern im Spektrum klinischer Forschung dargestellt.
13.2.1 Arzneimittelstudien
Eine Einwilligung nach ausführlicher Aufklärung über Zweck, Inhalt, Nutzen und Risiken einer Untersuchung („informed consent“) ist unabdingbare Voraussetzung jeder klinischen Studie [23]. Da die Beweislast für eine ordnungsgemäße Aufklärung beim Arzt liegt [39], sollte die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit nach Möglichkeit durch einen studienunabhängigen Arzt oder Psychologen und im Zweifel durch 2 unabhängige Personen dokumentiert werden, die über Expertise auf dem Gebiet verfügen [4]. In dem folgenden Fall wurde zwar eine fehlende Einwilligungsfähigkeit festgestellt, aber dennoch erfolgte bereits eine Aufklärung über die Studieninhalte (▶ Fallbeispiel 1).
Sehr geehrte Damen und Herren, ich wurde gewaltsam in die Klinik deportiert und ich sollte die Einwilligungserklärung unterschreiben, von Ihren Kunden vergiftet zu werden. Sie wissen sehr genau, dass niemand von uns freiwillig die Einwilligungserklärung unterschrieben hat, um als gesunder Mensch in den Selbstmord getrieben zu werden, an Herztod oder Schlaganfall zu sterben. Weil ich mich aber weigerte, schnallte man mich gewaltsam an das Klinikbett. Zwangsweise verabreichte man mir das Nervengift Haldol und folterte mich mit Zwangsblutabnahme. Deshalb sind wir sehr froh, dass ein Gremium gebildet wurde, welches entscheidet, ob Kriegsverbrecherprozesse durchgeführt werden oder der rote Knopf gedrückt wird. Der Erdkern wird durch die Detonation bersten. Wir hoffen, dass man den roten Knopf drückt. Das, was ihr uns angetan habt, ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Abschiedsgruß
Das gewählte Vorgehen der Aufklärung eines zu diesem Zeitpunkt nichteinwilligungsfähigen Patienten förderte die wahnhafte Verkennung von Zusammenhängen zwischen der Aufklärung und Aushändigung einer Einwilligungserklärung zu einem Studienvorhaben und der zuvor erfolgten zwangsweisen klinischen Behandlung. Daher sollte von der üblichen Reihenfolge, dass zunächst die Einwilligungsfähigkeit geprüft wird, bevor eine Aufklärung über studienrelevante Informationen erfolgt, auch dann nicht abgewichen werden, wenn pragmatische Gründe wie z. B. organisatorische Abläufe eine Umkehrung der Reihenfolge nahelegen.
Im nächsten Fall (▶ Fallbeispiel 2) wird deutlich, dass das Vorliegen einer rechtlichen Betreuung vor der Einholung der Einverständniserklärung abzuklären ist und ein Einfluss einer Aufwandsentschädigung auf den individuellen Entscheidungsprozess zu vermeiden ist.
Obwohl eine gesetzliche Betreuung für Gesundheitssorge bestand, kann der Patient bei erhaltener Einwilligungsfähigkeit auch ohne den Betreuer der Teilnahme an der klinischen Studie zustimmen [12], jedoch sollte der rechtliche Betreuer über eine Studienteilnahme informiert werden. Im Falle fehlender Einwilligungsfähigkeit muss der Betreuer zustimmen, wobei in Zweifelsfällen Betreuer und Betreuter gemeinsam einwilligen sollten [22]. Bei einer begründeten Gefahr von studienbedingten gesundheitlichen Schäden sollte das Betreuungsgericht hinzugezogen werden. Bei phasenhafter Einschränkung der Einwilligungsfähigkeit besteht die Möglichkeit der Benennung eines Vertreters durch den Patienten, der die Entscheidungsfindung in medizinischen Fragen in Phasen fehlender Einwilligungsfähigkeit übernimmt [10]. Dieses Vorgehen wurde beispielsweise bei der CATIE-Studie angewendet [10].
In dem hier genannten Fallbeispiel werden die möglichen gesundheitlichen Folgen einer Kosten-Nutzen-Analyse durch den Patienten zugunsten eines finanziellen Vorteils deutlich. Die Höhe der Aufwandsentschädigung rechtfertigte sich durch die Länge des stationären Aufenthaltes ohne direkten medizinischen Nutzen für den Teilnehmer. Die Gefahr einer therapeutischen Misskonzeption war aufgrund einer eindeutigen Aufklärung zum fehlenden medizinischen Nutzen und der Aufwandsentschädigung gering. Die Einschlusskriterien wurden auf Anregung der Ethikkommission ergänzt, indem nur Patienten der jeweiligen durchführenden Klinik aufgenommen werden durften. Hierdurch sollte vermieden werden, dass ungeeignete Patienten über eine Annonce mit Nennung der Aufwandsentschädigung eingeschlossen werden. Die Freiheit der Selbstbestimmung und das Patientenwohl sind die involvierten ethischen Prinzipien. Es erweist sich hier der vermeintliche finanzielle Nutzen als Risiko, welches zu einem Rückfall der vorbestehenden Alkoholabhängigkeit und der Exazerbation der schizophrenen Psychose beiträgt.
Bisher liegen nur wenige Studien vor, die den Zusammenhang zwischen Aufwandsentschädigung und Willen zur Studienteilnahme untersucht haben. Eine Untersuchung zur hypothetischen Teilnahme von 46 Patienten mit Schizophrenie an Studien mit abgestuften finanziellen Entschädigungen zeigt, dass sowohl die Ausprägung des Risikos als auch die Höhe der Vergütung mit dem Willen zur Teilnahme korrelieren. Die Patienten waren mit steigenden finanziellen Entschädigungen bereit, größere Risiken, z. B. eine Symptomprovokation, in Kauf zu nehmen. Dessen ungeachtet war aber ein Teil der Stichprobe bei jedem hypothetischen Szenario, auch bei maximalen Entschädigungen, nicht bereit teilzunehmen [18]. Wong und Kollegen halten eine über die reine Aufwandsentschädigung hinausgehende Vergütung bei Studien mit höherem gesundheitlichem Risiko für unethisch, da dies dazu führe, dass Patienten mit einem finanziellen Bedarf eher gesundheitliche Risiken eingehen würden [63].
Besonders bei Studien mit an Schizophrenie erkrankten Patienten sollte eine Aufwandsentschädigung einer Studienteilnahme nicht als besonderer Vorteil herausgestellt werden. Die in unserem Fall hohe Entschädigungszahlung erhöht die Gefahr einer Entscheidung zugunsten eines finanziellen Vorteils unter Vernachlässigung der gesundheitlichen Risiken. Anderseits darf nicht die Aufwandsentschädigung für einen psychisch Kranken geringer ausfallen als für einen Teilnehmer ohne psychische Erkrankung. Aus einer ärztlichen Fürsorge heraus ist darauf zu achten, dass krankheitsbedingte Verarmung von Patienten mit Schizophrenie möglichst nicht den Entscheidungsprozess für oder gegen eine Studienteilnahme mit gesundheitlichen Risiken entscheidend beeinflusst [52]. Ob eine altruistische Motivlage für die Teilnahme und Unterstützung von Forschung ausreicht, um eine genügende Anzahl von Patienten für komplexe Studienabläufe ohne medizinischen Eigennutz zu gewinnen, ist jedoch fraglich [58].
Ein besonderes Dilemma ergibt sich für den Forscher in der Risiko-Nutzen-Analyse, wenn die primären Outcome-Kriterien unerwünschte Nebenwirkungen sind. Der Forscher hat neben dem Ziel der Verbesserung der Patientensicherheit den Ansatz, einen möglichst statistisch signifikanten Gruppenunterschied nachweisen zu können.
Die beschriebene Durchführung (▶ Fallbeispiel 3) macht die Bedeutung der Definition von Abbruchkriterien auch bei versorgungsnahen Studien, bzw. in diesem Fall die Festlegung von medizinischen Vorgehensweisen im Falle des Überschreitens bestimmter Toleranzgrenzen, deutlich.
Unter ethischen Gesichtspunkten sind für die konkrete Studiendurchführung klinischer Studien die Definition der Ein- und Ausschlusskriterien sowie der Abbruchkriterien bedeutend, da diese das Risikoprofil der zu untersuchenden Patienten mit Schizophrenie definieren. Diese Frage ist umso wichtiger, je höher die Risiken sind, die durch das Studiendesign bzw. die Intervention entstehen. Die Eingangs- und Abbruchkriterien sind in der Regel umso restriktiver je höher die zu erwartenden Gesundheitsrisiken im Rahmen des Studiendesign einzuschätzen sind. Konsensus über das Vorgehen bei unzureichendem Response der Behandlung oder bei Verschlechterung der Symptomatik fehlt [45]. Ein Grenzwert für die Verschlechterung, die zum Ausschluss führen muss, ist meist nicht vorgegeben und führt daher zu individuellen Entscheidungen. Eindeutige Suizidalität sollte ein definitives Ausschlusskriterium sein [45]. Abbruchkriterien sollten das fehlende therapeutische Ansprechen, die psychopathologische Verschlechterung und Ausprägungsgrade von unerwünschten Nebenwirkungen beinhalten [45]. Ein definitiver Grund für das Abbrechen der Teilnahme an einer Studie ist, wenn auf der CGI-Skala der Verlauf als deutlich verschlechtert angegeben wird [45]. Auch sollte bei Auftreten von unerwünschten Nebenwirkungen eine Grenze der Akzeptanz durch den Studienleiter im Studienverlauf gesetzt und entsprechende internistische Interventionen vorgesehen werden.
Ein weiterer Aspekt einer Risikoabwägung wird bei Studien zur Prävention von Schizophrenie durch Frühdiagnostik und -intervention im Prodromalstadium deutlich. Es ergibt sich das Grundproblem, dass heute zur Verfügung stehende diagnostische Frühindikatoren keine optimale diagnostische Präzision aufweisen und daher zwangsläufig auch falsch-positive Fälle identifiziert und behandelt werden.
Durch die – in solchen Fällen fälschliche – Feststellung eines erhöhten Risikos zur Entwicklung einer schizophrenen Psychose können die Betroffenen jedoch verunsichert und stigmatisiert werden sowie möglicherweise einer unnötigen und unwirksamen Intervention mit potenziellen Nebenwirkungen unterzogen werden.
Bei der Risiko-Nutzen-Abwägung des Forschers fließen klinische Erfahrungen und Informationen über das zu untersuchende Arzneimittel und das Design der Studie ein. Die klinische Erfahrung steht häufig nicht im Einklang mit aktueller wissenschaftlicher Evidenz und führt gelegentlich zu einer nicht stichhaltig zu begründenden Ablehnung wissenschaftlicher Ansätze zur Evaluierung von Therapiestrategien.
Seit der Einführung atypischer Antipsychotika vor etwa 40 Jahren sprach über einen langen Zeitraum die empirische Evidenz für eine Überlegenheit der neuen Substanzen, insbesondere auf Grund des besseren Nebenwirkungsprofils [57]. Dieser Konsens hat z. B. im Rahmen des Kompetenznetzes Schizophrenie dazu geführt, dass Kliniken die Durchführung einer Vergleichsstudie von Haloperidol und Risperidon an erstmals schizophren Erkrankten aus ethischen Gründen abgelehnt haben. Die betreffende Studie, wie auch parallel laufende andere große öffentlich geförderte Antipsychotikastudien (z. B. CATIE [34]) haben jedoch keine klare Überlegenheit neuer Substanzen nachweisen können und somit in der Zwischenzeit zu einer Reformulierung entsprechender Leitlinienempfehlungen geführt [26].
Die Vorkehrungen zur Patientensicherheit müssen auf der Grundlage des Studienprotokolls und der „Investigator Brochure“ erfolgen. Häufig ist die Darstellung der Voruntersuchungen und der bisher festgestellten gesundheitlichen Risiken in diesen Unterlagen unübersichtlich und hierdurch ist dem Forscher eine ethische Abwägung erschwert. Empfehlenswert wäre eine standardisierte Charakterisierung des Risikoprofils einer Studie [65], um dem Untersucher einen klaren Überblick zu geben. Von besonderer Relevanz ist die kritische Prüfung von placebokontrollierten Studien .
Wir haben in der Vergangenheit eine Reihe von angebotenen Studien mit Placebokontrolle abgelehnt, da die Relevanz der Fragestellung fraglich war, die Evidenz für die Durchführung der Studie nicht ausreichend belegt erschien und die besonderen Risiken einer Placebokontrolle im Studienprotokoll nicht ausreichend berücksichtigt erschienen.
Bei einer placebokontrollierten Studie wird das ärztliche Fürsorgeprinzip zugunsten eines Erkenntnisgewinns zum Nutzen künftiger Patienten partiell eingeschränkt [61]. Es sollten Standards für Ein-, Ausschluss- und Abbruchkriterien von placebokontrollierten Studien formuliert werden [45], um die Risiken zu minimieren (Abschn. 4.3.4). Ein engmaschiges Monitoring der relevanten kritischen Parameter sollte im Protokoll vorgeschrieben sein. Die ersten beiden Wochen von placebokontrollierten Studien sollten im Krankenhaus-Setting durchgeführt werden [45]. Trotz der vermeintlich unwirksamen Placebobehandlung ist mit einem unspezifischen Placeboeffekt von mindestens 50 % zu rechnen [6]. Da die akute Symptomreduktion unter Antipsychotika meist innerhalb der ersten 4 Wochen auftritt und Non-Responder meist innerhalb der ersten 2 Wochen identifiziert werden, sollten placebokontrollierte Akutstudien auf diesen Zeitraum begrenzt werden [36], um die Risiken zu minimieren. Basierend auf einer Metaanalyse von 7 Studien fehlen Hinweise auf eine Langzeitschädigung durch kurze Phasen fehlender Behandlung [9]. Ein Cross-over-Design bietet die Möglichkeit, dass auch den Patienten, die zunächst Placebo erhalten, in einer zweiten Phase die wirksame Substanz verabreicht wird.
Fallbeispiel 1
Eine 35-jährige Patientin mit einer chronifizierten Schizophrenie wird im Rahmen eines Pre-Screenings während einer stationären Behandlung auf eine Studienteilnahme angesprochen und erhält vorab die schriftliche Patienteninformation mit Einverständniserklärung und Versicherungspolice zur Teilnahme an einer Phase-III-Arzneimittelstudie. Die Patientin wird mündlich über die Studie aufgeklärt. Bei der genaueren Exploration wird deutlich, dass die Patientin nicht den Einschlusskriterien entspricht, nicht einwilligungsfähig ist und wird daher nicht eingeschlossen. Die chronisch floride Patientin schreibt nach Entlassung an die Versicherung der Studie und den zuständigen pharmazeutischen Konzern der Studie einen Beschwerdebrief:
Fallbeispiel 2
Die Rekrutierung eines 45-jährigen Patienten mit bekannter Schizophrenie in eine Phase-II-Studie zur Überprüfung der Verträglichkeit und Pharmakodynamik eines neuen Antipsychotikums erfolgte, da bekannt war, dass der Patient im Vorfeld zuverlässig an Studien der Klinik teilgenommen hatte. Die Studiendurchführung erforderte eine 15-tägige stationäre Aufnahme. Der Patient war letztmalig 2 Jahre zuvor im Hause stationär und seitdem in stabilem klinischem Zustand ambulant mit Risperdal 3 mg/d oral durch einen niedergelassenen Psychiater behandelt worden. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Einverständniserklärung war der Patient psychopathologisch nur geringfügig auffällig (PANSS: 46 Punkte-Max.: 30–210). Er erfüllte alle Kriterien für eine Studienteilnahme. Zum Zeitpunkt des Studieneinschlusses ergaben sich bei der Untersuchung durch zwei Ärzte keine Hinweise auf fehlende Einwilligungsfähigkeit. An Tag 5 der Studienteilnahme nach Absetzen der vorbestehenden Medikation zeigte sich eine Zunahme von psychomotorischer Unruhe und diffusen Ängsten, welche nach 3 Tagen unter der Gabe von Benzodiazepinen remittierten. Zum Entlassungszeitpunkt nach 15-tägiger stationärer Studienteilnahme betrug der PANSS-Wert 39 Punkte. Zu diesem Zeitpunkt erhielt Herr H. noch 1 mg/d Tavor mit der Maßgabe, diese Medikation noch 2 bis 3 Tage einzunehmen. Gleichzeitig wurde die ursprüngliche Medikation mit Risperdal wieder verordnet. Am Tag der Entlassung erhielt der Patient von der Verwaltung die Aufwandsentschädigung für die Studienteilnahme in Höhe von etwa 2.700 € ausgezahlt. Zehn Tage nach der Entlassung erschien der Patient aus eigenem Antrieb in der Institutsambulanz der Klinik. Er gab an, seit der Entlassung seine Medikamente nicht mehr genommen zu haben, mehrere Tage durch „die Kneipen gezogen“ zu sein und Alkohol getrunken zu haben. Die am selben Tag durchgeführte PANSS-Untersuchung ergab einen deutlich erhöhten Wert von jetzt 81 Punkten, wobei eine deutliche Antriebssteigerung im Vordergrund stand. Die Ausprägung der psychopathologischen Symptomatik ließ uns seine stationäre Aufnahme veranlassen. Während der nachfolgenden stationären Behandlung wurde deutlich, dass der Patient seit 2 Jahren einen gesetzlichen Betreuer hat mit den Bereichen Gesundheitsfürsorge (ohne Einwilligungsvorbehalt) sowie finanzielle Angelegenheiten und Aufenthaltsbestimmung.

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