Diagnostik und Therapie von Kommunikationsstörungen in der Frührehabilitation


Störungsbild

Symptome

Zu beachten

Reine Aphasie

Supramodale Sprachstörung; betroffen sind auditives Sprachverständnis, Sprechen, Lesesinnverständnis, Schreiben

In der Frühreha (Phase B) eher selten; wenn, dann oft global

Reine Sprechapraxie

Störung der Generierung und Exekution einer Sequenz von Einzelbewegungen der einzelnen Artikulatoren; nur Sprechen betroffen, Sprachverständnis und Schreiben ungestört

In der Frühreha (Phase B) eher selten

Reine Dysarthrie

Störungen der Sensomotorik des Sprechens; nur Sprechen betroffen, Sprachverständnis und Schreiben ungestört

In der Frühreha (Phase B) häufig mit Dysphagien

Mischform

Aphasie zusätzlich zu kognitiven Störungen/Aphasie in Kombination mit Dysarthrie oder Sprechapraxie

In der Frühreha (Phase B) häufig





8.2.2.3 Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Aphasien


Bei stark eingeschränkten sprachlichen Ressourcen ist ein Training im sprachersetzenden nonverbalen Bereich wie der Einsatz von Gestik (vgl. Hogrefe u. Goldenberg 2010), Zeichnen (vgl. Bauer u. Urbach 2003), Kommunikationstafeln (vgl. Döppler et al. 2003) und/oder bildgestützen Kommunikationsgeräten sinnvoll.

Häufiger sind nach schweren Hirnverletzungen durch akute Infarkte, Blutungen und Schädel-Hirn-Traumen Mischbilder anzutreffen, bei denen Aphasien mit anderen kognitiven Beeinträchtigungen z. B. im Bereich von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutiven Funktionen auftreten. Aus den o. g. Gründen kann sich hier eine Differenzialdiagnostik als schwierig erweisen. Meist sind die Verständigungsmöglichkeiten zumindest in den frühen Phasen so elementar eingeschränkt, dass die Voraussetzungen von Verständigungsfähigkeit und sehr elementare Verständigungsaktivitäten ähnlich wie beim Zustand minimaler Bewusstheit zunächst in kleinen Schritten erarbeitet und unterstützt werden müssen (vgl. ▶ Abschn. 8.2.1.1, 8.2.1.2).

Bei gebesserter Kooperationsfähigkeit sind im weiteren Verlauf sehr sorgfältige und individuelle Untersuchungen des jeweiligen Patienten und Absprachen in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit der Neuropsychologie erforderlich. Der Versuch, sprachliche Symptome ohne Berücksichtigung der kognitiven Einschränkungen zu interpretieren, greift zu kurz (Drechsler 1997).

Ähnlich wie Patienten mit reinen Aphasien sind auch solche mit reinen Sprechapraxien in der Frührehabilitation eher selten. Zur detaillierten Erfassung und Behandlung dieses Störungsbilds gibt es ausführliche Literatur (vgl. Aichert u. Staiger 2010).

In der Frührehabilitation sind vor allem die Differenzialdiagnose und erste Maßnahmen zur Optimierung der Verständigungsfähigkeit relevant. im Gegensatz zu Aphasikern sind bei Sprechapraktikern das Sprachverständnis und die schriftsprachlichen Leistungen intakt oder jedenfalls deutlich besser erhalten. Kommunikation ist also über Schriftsprache möglich.


8.2.2.4 Behandlungsmöglichkeiten bei Sprechapraxie


Falls Schreiben aus motorischen Gründen nicht gelingt, kann das Zeigen von Buchstaben auf einer Buchstabentafel und/oder der Gebrauch eines schriftsprachlichen Kommunikationsgeräts (z. B. eines Lightwriters) ausprobiert werden. Falls Sprechapraxie und Aphasie gemeinsam auftreten, kommen weiterhin Gestik, Zeichnen und/oder das Zeigen von Einträgen in ein Kommunikationsbuch zur Vermittlung von Inhalten infrage. Besonders effektiv scheint dann der Einsatz multimodaler Kommunikationssysteme zu sein (Giel et al. 2006).



8.2.3 Sprachtherapeutische Behandlungsmöglichkeiten bei Dysarthrien



8.2.3.1 Differenzialdiagnostik


Dysarthrien, in der Literatur auch als Dysarthrophonien bezeichnet, sind Störungen der Sensomotorik des Sprechens und treten häufig gemeinsam mit Dysphagien auf. Bei der Anarthrie ist keinerlei Artikulation möglich. Ist vor allem der Funktionskreis „Phonation“ betroffen, spricht man auch von Dysphonien.

In der Frührehabilitation sind Dysarthrien und Dysphonien nicht selten. In ihrer reinen Form sind wie bei der Sprechapraxie das Sprachverständnis und die schriftsprachlichen Leistungen erhalten. Menschen, die nur aufgrund einer schweren Dysarthrie in ihrer Sprechweise kaum verständlich sind, können sich also wie Sprechapraktiker behelfsmäßig durch Aufschreiben, Buchstabentafeln und/oder schriftsprachgestützten Kommunikationsgeräten – eventuell ergänzt durch Gestik, Zeichnen und/oder Kommunikationsbücher – verständigen (▶ Abschn. 8.2.2).

Zur Klassifikation von Dysarthrien, zur unterschiedlichen Symptomatik, zu ihrer genauen Erfassung und anschließenden Behandlung liegt ausführliche Literatur vor (vgl. z. B. Ziegler et al. 1998; Ziegler u. Vogel 2010). Allerdings erfordern die dabei eingesetzten Maßnahmen wieder Kooperations- und Therapiefähigkeit, die in der Frührehabilitation nicht selbstverständlich sind. Eine Ausnahme bilden schwer betroffene Patienten (z. B. mit Hirnstammläsionen, ohne kortikale Beteiligung), die kooperativ, aber wegen schwerer Dysphagien tracheotomiert und teilweise beatmet sind und aus diesem Grund länger in der Frührehabilitation verbleiben.


8.2.3.2 Diagnostische Abgrenzung


Differenzialdiagnostisch von Dysarthrien abzugrenzen ist im Bereich der Frührehabilitation vor allem undeutliches, unartikuliertes Sprechen in Phasen geminderter Vigilanz oder deutlich reduzierter Belastbarkeit. Auch eine Beeinträchtigung der Verstehbarkeit durch Dialekt, schlecht sitzende Zahnprothesen oder Speichelfluss bei Dysphagie stellt natürlich keine Dysarthrie dar.

In ◘ Tab. 8.1 und 8.2 wird die Dysarthrie von anderen Sprachstörungsbildern abgegrenzt.


Tab. 8.2.
Differenzialdiagnostik bei Dysarthrie




























Störungsbild

Symptome

Zu beachten

Dysarthrie

Störungen der Sensomotorik des Sprechens; nur Sprechen betroffen, Sprachverständnis und Schreiben ungestört

In der Frühreha (Phase B) häufig mit Dysphagien und zusätzlichen kognitiven Einschränkungen, die eine gezielte Therapie erschweren oder unmöglich machen

Anarthrie

Keine Artikulation möglich, Sprachverständnis und Schreiben ungestört

In der Frührehabilitation nicht selten

Sprechapraxie

Störung der Generierung und Exekution einer Sequenz von Einzelbewegungen der einzelnen Artikulatoren; nur Sprechen betroffen, Sprachverständnis und Schreiben ungestört

In der Frühreha (Phase B) in der reinen Form eher selten, häufiger mit Aphasie und zusätzlichen kognitiven Einschränkungen

Verwaschenes Sprechen bei reduzierter Vigilanz, schlecht sitzenden Prothesen, Speichelfluss durch Dysphagie oder Dialekt

Keine i. e.S. dysarthrischen Symptome, deutlicheres Sprechen bei gebesserter Vigilanz etc. möglich.

In der Frührehabilitation häufig


8.2.3.3 Behandlungsmöglichkeiten bei Dysarthrien


Die Sensomotorik des Sprechens überschneidet sich weitgehend mit der des Schluckens. Dysphagietherapeutische Maßnahmen, die sich z. T. auch ohne aktive Mitarbeit der Patienten durchführen lassen, können auch einige sensorische und motorische Grundlagen des Sprechens positiv mitbeeinflussen (vgl. den FOTT-Ansatz, Nusser-Müller-Busch 2007).

Bei Patienten, die beginnen, kooperationsfähiger zu werden, aber kein Störungsbewusstsein zeigen, d. h. noch nicht dazu in der Lage sind, ihre eigene Verstehbarkeit realistisch einzuschätzen oder gezielt zu üben, ist ein konsequentes Feedback („Jetzt habe ich Sie nicht verstanden – können Sie das bitte nochmal sagen?“) angebracht. Dies sollte möglichst von allen Mitarbeitern eingesetzt werden. In vielen Fällen ist es so, dass Patienten ihre prämorbide Sprechweise noch nicht den durch die Hirnverletzung veränderten Verhältnissen anpassen können und z. B. viel zu schnell sprechen. Lenkt der Gesprächspartner die Aufmerksamkeit auf die Sprechweise, versuchen die Patienten, bewusst deutlicher zu sprechen, verlangsamen ihr Sprechtempo und werden dann oft wesentlich besser verständlich.


8.2.3.4 Therapieansätze für den Zielbereich „verständlich Sprechen“ (Dysarthrie) Elementare gesprochensprachliche Aktivitäten


Eine Quantifizierung zur besseren Beurteilbarkeit der Zielerreichung ist durch Angaben von Häufigkeit oder Dauer der entsprechenden Leistung in Minuten oder Prozentangaben – bezogen auf die gesamte Interaktion in der Therapieeinheit – möglich.


8.2.3.5 Ziele






  • Lauter sprechen, Lautstärke situativ angepasst variieren,


  • langsamer sprechen, Gesprächstempo reduzieren,


  • akzentuierter sprechen,


  • deutlich artikulieren,


  • expressive nonverbale Mittel einsetzen (Mimik, Gestik),


  • auf das Verstehen des Gesprächspartners achten, Sprechweise darauf einstellen,


  • selbst günstige Rahmenbedingungen für die Verständlichkeit schaffen,


  • sich mittels Schreiben, Buchstabentafel oder eines an die individuellen Bedingungen angepassten Kommunikationsgeräts verständigen.


8.2.3.6 Maßnahmen






  • Verständlichkeitsorientierter Befund (Faktoren, die die Verständlichkeit beeinträchtigen, isolieren),


  • Atemübungen,


  • Artikulationsübungen,


  • Stimm- und Sprechübungen,


  • LSVT (Lee Silverman Voice Treatment),


  • Schulung der Selbstwahrnehmung/Selbsteinschätzung,


  • Schulung der Orientierung auf den Gesprächspartner im Hinblick auf dessen Verstehen,


  • Übungen zur Anpassung der Gesprächsorganisation, Sprechgeschwindigkeit und Akzentuierung,


  • Übungen zum Einsatz von Schreiben, Buchstabentafel oder Kommunikationsgerät.


8.2.3.7 Indikatoren für das Erreichen der Ziele






  • Patient variiert Lautstärke situativ angepasst,


  • spricht langsamer/akzentuierter,


  • setzt expressive nonverbale Mittel ein (Mimik, Gestik),


  • achtet auf das Verstehen des Gesprächspartners und kann Sprechweise darauf einstellen,


  • schafft selbst günstige Rahmenbedingungen für die Verständlichkeit,


  • verständigt sich mittels Schreiben, Buchstabentafel oder Kommunikationsgerät.


8.2.3.8 Kooperation


Sprechtherapie setzt grundlegende Kooperationsfähigkeit voraus:



  • Kooperationsfähigkeit für 5, 10, 15, 20 min,


  • Patient kann Techniken imitieren,


  • kann verbal angeleitete Techniken umsetzen,


  • kann Techniken auf Aufforderung umsetzen,


  • kann Techniken selbstständig üben,


  • setzt Techniken eigeninitiativ ein.


8.2.3.9 Therapieansätze für den Zielbereich „Mit Stimme sprechen“ (Dysphonie)


Eine Quantifizierung zur besseren Beurteilbarkeit der Zielerreichung ist durch Angaben von Häufigkeit oder Dauer der entsprechenden Leistung in Minuten, oder Prozentangaben – bezogen auf die gesamte Interaktion in der Therapieeinheit – möglich.


8.2.3.10 Ziele






  • Summen können,


  • jemanden rufen können,


  • sich beim Sprechen stimmlich weniger anstrengen,


  • sofort mit Äußerungsbeginn stimmhaft sprechen,


  • Floskeln und Redewendungen mit Stimme äußern,


  • die Stimme auch bei längerem Sprechen halten können,


  • die Stimme im engen Dialog halten können,


  • die Stimmqualitäten gezielt variieren können,


  • Techniken der Stimmpflege erlernen.


8.2.3.11 Maßnahmen






  • Befunderhebung,


  • Methoden der Stimmtherapie (z. B. manuelle Stimmtherapie),


  • visuelles Feedback (entsprechende Computerprogramme),


  • Atemübungen, Wahrnehmungsübungen für die Atmung,


  • Wahrnehmungsübungen für die Stimme.


8.2.3.12 Indikatoren für das Erreichen der Ziele






  • Stimme vereinzelt hörbar?


  • spontaner, sofortiger Stimmeinsatz?


  • Stimmeinbrüche nehmen ab, nur noch selten?


  • Stimmeinbrüche können selbst korrigiert werden?


  • Stimme im angestrebten Umfang tragfähig (durchgängig)?


  • Veränderung der Stimmqualität (höher/tiefer, Klarheit, Dauer in min)?


  • Stimmanstrengung subjektiv zurückgegangen?


  • Techniken „XY“ der Stimmpflege können unter Imitation/Anleitung umgesetzt werden/werden beherrscht?


8.2.3.13 Kooperation


Stimmtherapie setzt grundlegende Kooperationsfähigkeit voraus:



  • Kooperationsfähigkeit für 5, 10, 15, 20 min,


  • Patient kann Techniken imitieren,


  • kann verbal angeleitet Techniken umsetzen,


  • kann Techniken auf Aufforderung umsetzen,


  • kann Techniken selbstständig üben,


  • setzt Techniken eigeninitiativ ein.


8.2.4 Sprachtherapeutische Behandlungsmöglichkeiten bei Mutismus und dysexekutiven Sprachstörungen



8.2.4.1 Differenzialdiagnostik


Mutismus ist zunächst ein deskriptiver Terminus. Es handelt sich um Patienten, die nicht komplett gelähmt sind, aber zunächst – oder auch über längere Zeiträume hinweg – gar nichts sagen, auch nicht auf wiederholte Ansprache. Sie sind zwar wach und können ihren Blick zumindest zeitweise auf etwas fixieren, befinden sich also nicht (mehr) im Wachkoma. Häufig richten sie ihren Blick aber gar nicht auf den Gesprächspartner oder auf Gegenstände, auch wenn man sich sehr bemüht, ihre Aufmerksamkeit hinzulenken.

Mutismus tritt auch psychogen auf. Schwere Depressionen können beispielsweise zu weitgehender Interaktionsunfähigkeit führen. In der Neurologie wird Mutismus definiert als neurogen bedingte „(weitgehend) aufgehobene Fähigkeit zu lautsprachlichen Äußerungen in Verbindung mit erhaltenem oder zumindest deutlich besserem Sprachverständnis“ (Ackermann u. Ziegler 1994). Er kann derart im Rahmen zentralmotorischer Störungen „die ausgeprägteste Form einer dysarthrischen Störung“ darstellen. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma kann ein sog. traumatischer Mutismus auftreten (Cramon u. Vogel 1981), ein transitorisches Phänomen. Eine weitere Form ist der (frontale) akinetische Mutismus, „die ausgeprägteste Form einer Antriebsstörung nach bilateraler Schädigung des medialen Frontallappens bzw. des frontalen Marklagers“ (Ackermann u. Ziegler 1995).


8.2.4.2 Diagnostische Abgrenzung


Differenzialdiagnostisch ist Mutismus zunächst von einer schweren, unflüssigen Aphasie abzugrenzen. Auch bei sehr schweren Aphasien sind jedoch i. d. R. Blickkontakt, Aufmerksamkeitslenkung und zumindest Verständigungsbemühungen vorhanden, wobei diese oft nicht verstehbar sind oder aus Automatismen bestehen und das Sprachverständnis meist deutlich eingeschränkt ist. Weiterhin ist eine Abgrenzung von Aphonie aufgrund anderer Ursachen erforderlich. Bei komplexeren Hirnverletzungen wie z. B. akuten Infarkten, Blutungen und zusätzlicher Entwicklung eines Hydrozephalus sind natürlich auch Mischformen möglich.

Dec 11, 2016 | Posted by in NEUROLOGY | Comments Off on Diagnostik und Therapie von Kommunikationsstörungen in der Frührehabilitation

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