Die ICF – Grundlagen und Anwendung in der neurologischen Frührehabilitation



Abb. 3.1.
Hierarchische Anordnung der ICF





3.3 ICF als Grundlage der Steuerung von Behandlungsprozessen


Für eine Vielzahl von Menschen mit schwerwiegenden neurologischen Erkrankungen ist der stationäre Rehabilitationsaufenthalt nur eine kurze Phase im Rahmen eines oft langjährigen Krankheitsverlaufs. Meist werden poststationär weitere institutionsübergreifende Rehabilitationsleistungen notwendig. Der stationäre Aufenthalt ist somit nur eine Zwischenetappe. Die folgende Beschreibung fokussiert den Rehabilitationsprozess, insbesondere die Behandlungsplanung und -steuerung während der stationären Neurorehabilitation.

Die Behandlungsplanung und -steuerung beginnt mit Aufnahme des Patienten in die Klinik und endet mit der Entlassung. Dabei besteht die Annahme, dass sämtliche in der neurologischen Frührehabilitation erbrachten Leistungen von der medizinischen Diagnose ausgehend begründet werden können. Jedoch lassen sich aus den Diagnosen, der medizinischen Anamnese und der ärztlichen Diagnostik nicht unmittelbar Behandlungsziele und -maßnahmen ableiten. Als Voraussetzung für die Planung und Durchführung der Interventionen ist ein Gesamtrehabilitationsplan (Teilhabeplan nach SGB IX) unter Einbeziehung weiterer Berufsgruppen (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie, Pflege) zu erstellen. Hierfür reicht die reine Betrachtung einzelner sensomotorischer, sprachlicher und kognitiver Funktionsdefizite (Körperfunktionen und -strukturen nach ICF) nicht aus. Für eine gezielte Behandlungssteuerung ist eine multidimensionale Betrachtung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Rehabilitanden erforderlich:



  • die Beeinträchtigung auf Aktivitäts- (Alltagsbewältigung) und Partizipationsebene einschließlich des Lebens- und Wohnumfelds und der sozialen Unterstützung (Gmünder 2007) wie auch


  • die Beschreibung der noch vorhandenen Fähigkeiten.

Erst nach Erfassung aller ICF-Komponenten kann ein auf den Patienten zugeschnittener Rehabilitationsplan festgelegt werden. Die Behandlungsplanung und -steuerung erfolgt nicht zufällig, sondern nach einem festgelegten Vorgehen, welches in den gesamten Rehabilitationsprozess eingebettet ist. Bei Behandlungsbeginn erfolgt



  • der Assessmentprozess, einschließlich Einschätzung von Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationspotenzial,


  • der Zielfindungsprozess und schließlich


  • die Einleitung der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen (◘ Abb. 3.2).



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    Abb. 3.2.
    Modellhafte Darstellung des Rehaprozesses

Die einzelnen Prozesse sind mit der Teamkonferenz als zentralem Steuerungsinstrument rückgekoppelt. Behandlungsprozesse, die den klinischen Weg des Patienten abbilden wollen, müssen den Blick über die medizinische Perspektive hinaus erweitern und so konzipiert sein, dass sie auch die sozialen und psychologischen Aspekte berücksichtigen. Durch das Re-Assessment (◘ Abb. 3.2) ist zu prüfen, inwieweit die Rehabilitationsziele erreicht wurden, wie Rehabilitationspotenzial und Rehabilitationsprognose zu bewerten sind, ob das Therapieprogramm weiterzuführen oder ggf. zu beenden ist, und ob möglicherweise die Einleitung der poststationären Versorgung (◘ Abb. 3.2) erforderlich wird.

Die in dem Schaubild (◘ Abb. 3.2) dargestellten Behandlungsprozesse bilden den gesamten Behandlungsablauf ab. Hierbei handelt es sich um ein vorab definiertes, berufsgruppenübergreifendes Vorgehen bei der Behandlungsplanung, -steuerung und -überprüfung medizinischer, therapeutischer, psychologischer und pflegerischer Leistungen. Die Behandlungsprozesse weisen den einzelnen Berufsgruppen Verantwortlichkeiten für die Versorgungsleistungen zu. Der Behandlungsverlauf kann in verschiedene Zeitkorridore unterteilt werden, in denen verschiedene Versorgungsleistungen erbracht werden (◘ Abb. 3.3) und definierte Ziele (Outcomes) erreicht werden sollen.


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Abb. 3.3.
Aufgaben im Rehaprozess


Herr Meyer: Assessment

Auf Herrn Meyer und seine Angehörigen kommen nun eine Reihe einzelner Teilprozesse zu. Die Angehörigen fragen sich, welche Therapieformen Herr Meyer bekommen wird, wie lange die Anwendungen dauern werden, wie viele Anwendungen er am Tag erhält, und wie reversibel die Funktionsstörungen sein werden.

Zunächst wird ein Reha-Assessment durchgeführt, um den Schweregrad der Beeinträchtigungen einschätzen zu können.


3.4 Assessmentverfahren in der neurologischen Rehabilitation


Der Begriff „Assessment“ steht für den gesamten Komplex der interdisziplinären Anamnese-/Befunderhebung und Krankenbeobachtung. Er beinhaltet einen auf verschiedene Dimensionen ausgerichteten Prozess zur Gesamterfassung und Bewertung der gesundheitlichen Situation eines Patienten unter Berücksichtigung körperlicher, psychischer und sozialer Komponenten (Runge et. al. 1995). Dieser Prozess kann als methodisches Vorgehen in Bezug auf die klinische Befundaufnahme (Stucki et al. 2002), den Rehabilitationsverlauf und das Behandlungsergebnis (Reha-Outcome) betrachtet werden (Biefang et al. 1999).


3.4.1 Die ICF im Kontext neurologischer Assessments


Der Erkrankungszustand von Rehabilitanden in der neurologischen Frührehabilitation umfasst ein sehr weites Spektrum – von komatösen bis hin zu bewusstseinsklaren Rehabilitanden, die im Bereich der basalen Selbstversorgung und der Mobilität nur noch in Teilbereichen auf Hilfestellungen angewiesen sind (Müller u. Glässel 2008). Das Konzept der Rehadiagnostik beinhaltet ein multidisziplinäres Assessment standardisierter und nicht standardisierter Verfahren, qualitativ beschreibender bzw. quantitativ objektivierender Verfahren. Durch deren Einsatz können Daten erhoben werden, die präzise Aussagen über die Folgen von Schädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen auf den Ebenen der Körperfunktionen, Körperstrukturen als auch der Aktivitäts- und Partizipationsebene zulassen. Im Mittelpunkt der Begutachtung steht nicht die medizinische Diagnostik von Krankheit oder Behinderung, sondern vor allem die Erfassung von Funktions- und Fähigkeitsstörungen und deren soziale Auswirkungen für die Teilhabe im Hinblick auf



  • die Leistungsfähigkeit in Alltag und Beruf,


  • die Erfüllung sozialer Rollen,


  • die Lebensqualität und


  • den Pflegebedarf.

Dabei ist die Berücksichtigung der Kontextfaktoren (personenbezogene Faktoren und Umweltfaktoren) für die weitere Rehaplanung wesentlich. Es ist erforderlich, einen Rehabilitationsplan mit Angabe von Ressourcen und Förderpotenzialen sowie Rehabilitationszielen aufzustellen und eine Einschätzung des Rehabilitationspotenzials sowie eine Rehabilitationsprognose abzugeben. Dies gelingt durch das Einbeziehen der Gesundheitsfachberufe (z. B. Physiotherapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie, Pflege), die in einem standardisierten Vorgehen definierte Assessments gezielt einsetzen (BAR 1995). Die Orientierung an der ICF ist hilfreich, um die verschiedenen Dimensionen abzubilden und die Beurteilung der gesundheitlichen Beeinträchtigung mithilfe der ICF-Kategorien zu systematisieren.

Das neurologische Reha-Assessment, das zu Beginn jeder Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen ist, erfüllt verschiedene Ziele (▶ Übersicht 3.5).


Übersicht 3.5. Ziele des neurologischen Reha-Assessments





  • Diagnostik/Befunderhebung (Welche Probleme hat der Patient auf den Ebenen der Körperfunktion und -struktur, Aktivität und Partizipation?)


  • Grundlage für Therapieplanung (Inhalt, Art, Dauer und Frequenz der Interventionen)


  • Grundlage für Zielfindungsprozess (Ziele festlegen und evaluieren)


  • Grundlage zur Klärung der Zuständigkeit der Leistungsträger (Krankenversicherung)


  • Einschätzung von Rehabilitationbedarf und -fähigkeit


  • Prognoseeinschätzung (Voraussage über ein mögliches Behandlungsergebnis oder Risikos, z. B. Sturzrisiko)


  • Überprüfung der Rehabilitationsprognose


  • Entscheidungsgrundlage für den Verlängerungsantrag der Rehabilitationsleistung


  • Dokumentation der Verlaufs- und Ergebnismessung (Fort- und Rückschritte der Therapieeffekte aufzeigen)


  • Erfassung von ethischen Wertvorstellungen und persönlicher Lebensplanung


  • Erfassung des sozialen Kontexts und des Lebensumfelds (Wohnsituation, soziale Unterstützung durch Angehörige)


  • Grundlage für die Erstellung des Entlassungsberichts und Arztbriefs


  • Kommunikation mit den Schnittstellen (verwertbare Aussagen für Patienten und Angehörige, medizinisches Personal, andere Berufsgruppen, Klinikmanagement, Gutachten, Forschung etc.)

Die am häufigsten eingesetzten standardisierten Assessments in der Neurorehabilitation sind den krankheitsspezifischen Assessments zuzuordnen, welche vor allem Körperfunktionen und -strukturen sowie die Aktivitäten des täglichen Lebens fokussieren und den Einfluss von spezifischen Interventionen auf diese Krankheiten hin überprüfen. Sie ermöglichen meist keine Identifizierung von umweltbezogenen Kontextfaktoren oder Beeinträchtigungen in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Diese Tatsache spricht dafür, weitere Verfahren oder ergänzende Dokumentationen (▶ Abb. „Interdisziplinäre Befunderhebung IB“) und „Fragebogen zur Erfassung der externen u. internen Kontextfaktoren“ unter www.springer.com/978-3-642-24885-6) einzusetzen. In der Neurorehabilitation sollte eine Kombination von quantitativ standardisierten bis qualitativ beschreibenden Verfahren wie z. B. semi-/strukturierte Interviews, Beobachtungsverfahren, klinische Tests wie auch standardisierte Instrumente zur Anwendung kommen.


3.4.2 Beispiel für ein ICF-basiertes Instrument in der Praxis



3.4.2.1 Interdisziplinäre Befunderhebung (IB)


Das ICF-basierte Instrument „interdisziplinäre Befunderhebung“ (IB) ist ein Befunderhebungs- und Dokumentationsinstrument der rehabilitativen Diagnostik, anhand dessen das bio-psycho-soziale Modell der ICF aufgegriffen und im multidisziplinären Team für die klinische Anwendung genutzt werden kann. Das Instrument dient der Rehabilitationsplanung wie auch der Outcome-Messung. Zudem lassen sich rehabilitationsrelevante Patientenprobleme zu Beginn der Rehabilitation erfassen (Ist-Zustand) und die Behandlungseffekte zu Rehabilitationsende dokumentieren (Mueller u. Glässel 2008). Die in der neurologischen Frührehabilitation eingesetzten standardisierten Assessmentinstrumente (▶ Kap. 4) können nicht alle Gesundheitsprobleme abbilden. Sie sind nicht konstruiert, alle Merkmale spezifischer Funktionsstörungen und Aktivitätseinschränkungen (wie z. B. Affektstörungen, Depressionen, Ernährungsstatus, Schmerzen, Kontrakturen, Dekubitus, Stimm- und Sprechstörungen, elementares Lernen, Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten) zu erfassen. Darüber hinaus ist es weder praktikabel noch sinnvoll, für jede Funktionsstörung ein spezifisches Assessment einzusetzen, wenn die für die Therapie relevante Informationsgenerierung auch über Beobachtungsverfahren möglich ist. Mithilfe der IB werden die Funktionsstörungen deskriptiv erfasst und nach Schweregradausprägung beschrieben (▶ Abb. „Fragebogen zur Erfassung der externen u. internen Kontextfaktoren“ unter www.springer.com/978-3-642-24885-6). Die einzelnen Fachdisziplinen tragen ihre Befundergebnisse, basierend auf klinischer Beobachtung, standardisierten Assessments oder klinischen Tests, zusammen.


3.4.2.2 ICF-Komponente: Körperfunktion/-struktur


Die Körperfunktionen/-strukturen werden über klinische Tests und standardisierte Assessments erhoben (für weitere Informationen und die Auswahl krankheitsspezifischer Assessments siehe Assessments in der Neurorehabilitation von Schädler et al. 2006).


3.4.2.3 ICF-Komponente: Aktivitäten


Die Dimension der Aktivitäten wird über die Beobachtung alltäglicher Verrichtungen (Activities of Daily Living, ADL) erfasst. Für die Erfassung der Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens bzw. für die Erfassung der Abhängigkeit von Fremdhilfe gibt es verschiedene Erhebungsinstrumente, z. B. Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen. Die Betrachtung der Fähigkeit, Handlungen im alltäglichen Leben auszuführen, hat in der Rehabilitation eine besondere Relevanz, da diese sich in empirischen Studien als wichtigster Prädiktor der Teilhabe eines Rehabilitanden und des Behandlungserfolgs erwiesen hat (Reed et al. 2005). Zur Erhebung der Aktivitäten im täglichen Leben haben sich



  • der Barthel-Index,


  • der Frühreha-Barthel-Index und


  • der Functional Independance Measure

in der klinischen Praxis bewährt.


3.4.2.4 ICF-Komponente: Kontextfaktoren


Die Dimension der personen- und umweltbezogenen Kontextfaktoren (▶ Abb. „Fragebogen zur Erfassung der externen u. internen Kontextfaktoren“ unter www.springer.com/978-3-642-24885-6) lässt sich über biographische Interviews und Befragungen des Rehabilitanden, der Familienangehörigen, des Hausarztes oder anderer Bezugspersonen erheben. Die Verbesserung der subjektiven Lebensqualität istt ein wichtiges patientenbezogenes Outcome-Kriterium. Die Kontextfaktoren spielen vor allem dann eine Rolle, wenn es um die Frage der Re-Integration des Rehabilitanden in das soziokulturelle gesellschaftliche Leben geht. Für die Rückkehr in das häusliche Umfeld oder die Durchführung von Freizeitbeschäftigungen sind Hintergrundinformationen zur sozialen und beruflichen Situation besonders wichtig:



  • familiäre Situation,


  • bisherige Wohnsituation,


  • Pflege von Angehörigen,


  • soziale Unterstützung,


  • finanzielle Situation,


  • Freizeitverhalten etc. (BAR 1995).

In diesem Zusammenhang muss das Fähigkeitsprofil des Rehabilitanden nach einer erworbenen Hirnschädigung mit der poststationären Alltagsanforderung (Anforderungsprofil) und den zu erfüllenden sozialen Rollen abgeglichen werden. Die frühzeitige Erfassung der zukünftigen Anforderungen an den Rehabilitanden (Leistungsfähigkeit) bezogen auf die auszuübende Tätigkeit oder die soziale Rolle ist sehr wichtig. Sie muss noch während der Rehabilitationsphase erfolgen, da sich hieraus Rehabilitationsziele und Interventionen ableiten lassen. Über die Leistungsfähigkeit hinaus beeinflussen die persönlichen Interessen und Erwartungen des Rehabilitanden bezogen auf die gewünschte soziale Rollenerfüllung wie auch das Wohn- und Lebensumfeld, das soziale Beziehungsgefüge die gesundheitsbezogene Lebensqualität.


Herr Meyer: Personen- und umweltbezogene Kontextfaktoren

Der Arzt erkundigt sich bei den Angehörigen und dem Hausarzt nach dem sozialen und biographischen Lebenshintergrund als Basis für die weitere Rehabilitationsplanung. Die weiteren Teammitglieder (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Psychologie) erfassen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen v. a. mittels klinischer Tests und standardisierter Assessmentverfahren.


3.5 Therapieziele auf Basis der ICF in der neurologischen Frührehabilitation


Nach dem Eingangsassessment werden nun Rehabilitationsziele, die im Zusammenhang mit der weiteren Behandlungsplanung stehen, festgelegt. Eine exakte Zieldefinition ist wichtig, zur



  • patientenorientierten Rehabilitation (Was will der Patient?),


  • Koordination der berufsübergreifenden Zusammenarbeit (Wer macht was?),


  • Dokumentation der therapeutischen Leistungen für den Kostenträger und


  • Evaluation der Behandlungseffekte.


3.5.1 Methodisches Vorgehen


Grundsätzlich findet die Zielsetzung in einem kontinuierlichen Prozess von Goal Setting (Zielformulierung), Goal Attainment (Zielüberprüfung/Evaluation) und Goal Revision (Anpassung/Korrektur der Ziele) statt. Hierfür eignet sich ein Schema zur Entwicklung von Zielen für die Behandlung (◘ Abb. 3.4).


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Abb. 3.4.
Ziele als Grundlage der Behandlungsplanung

Im Zielfindungsprozess ist zu beachten, dass die Ausrichtung der Behandlung auf Funktions- und Aktivitätsziele nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie mit Teilhabezielen verbunden sind (Frommelt u. Grötzbach 2007).


Beziehung zwischen Funktions-, Aktivitäts- und Teilhabezielen

Teilhabeziele:

Ziel der Neurorehabilitation ist es, dass, der Patient, in dem Fall Herr A., seine berufliche und soziale Rolle als



  • Ehemann und Vater von zwei Söhnen,


  • Außendienstmitarbeiter bei einer Versicherungsgesellschaft,


  • Vorstandsmitglied in einem Fußballverein und


  • aktiver Sänger im Kirchenchor

wieder erfüllen bzw. einnehmen kann.

Aktivitätsziele in Bezug zum Teilhabeziel:

Um wieder als Außendienstmitarbeiter arbeiten zu können, muss Herr A.



  • Fahrrouten planen und Autofahren können,


  • Kunden- bzw. Verhandlungsgespräche führen können,


  • Kostenkalkulationen erstellen können,


  • Vorträge halten können,


  • Gesangsnoten lesen können.

Funktionsziele in Bezug zum Teilhabeziel:

Zur Ausführung der Aktivitäten in beruflicher und sozialer Hinsicht muss Herr A.



  • über 8 Stunden pro Tag mental und physich belastbar sein,


  • adäquate Stimmbildung und Reduktion der Wortfindungsstörung erreichen, um längere Gespräche zu führen,


  • die Funktionen seiner rechten Hand verbessern, um das Lenkrad unverkrampfter halten zu können.


3.5.2 Praktische Umsetzung: Formulieren und Überprüfen von Therapiezielen



3.5.2.1 Anwendung der Goal Attainment Scale (GAS)


Das Goal Attainment Scaling (GAS) ist eine etablierte Methode, um den Grad der Zielerreichung zu erfassen; es wurde ursprünglich von Thomas Kiresuk und Robert Sherman (1968) entwickelt. Das Verfahren hat zum Ziel, den Rehabilitanden über eine gemeinsame Zielfindung in den Behandlungsprozess miteinzubeziehen und, wenn möglich, mit ihm zusammen den Zielerreichungsgrad auszuwerten (▶ Übersicht 3.6). Das Instrument ist ohne vorgegebene Konstrukte konzipiert und kann unabhängig vom inhaltlichen Kontext der Behandlung angewendet werden (Kiresuk u. Choate 1994).


Übersicht 3.6. Die fünf Phasen der Goal Attainment Scale



1.

Erste Auswahl relevanter Ziele

 

2.

Bestimmung von Indikatoren für die Beurteilung der Ziele

 

3.

Festlegung einzelner Ziele

 

4.

Formulierung der Ziele auf einer Skala

 

5.

Evaluation der Zielerreichung

 

(In Anlehnung an Schädler 2006)


3.5.2.2 Definition und Auswahl der Ziele


Zunächst werden Ziele mit dem Rehabilitanden ausgewählt, und danach wird festgelegt, welche der Ziele anhand der Zielerreichungsskala überprüft werden sollen. Für jedes festgelegte Ziel werden dann Indikatoren bestimmt, mit deren Hilfe die Zielerreichung überprüft werden kann. Die globalen Ziele (Teilhabeziele) können in mehrere konkret formulierte Zwischenziele unterteilt sein, die mithilfe der Zielerreichungsskala ausgewertet werden. Dabei kann sich die Zielsetzung auf die unterschiedlichen Komponenten der ICF beziehen. Zu beachten ist, dass die Ziele so formuliert werden, dass sie überprüfbar sind und ein zeitlicher Bezugsrahmen hergestellt wird.


3.5.2.3 Auswahl der Indikatoren und Skalierung


Anschließend werden Indikatoren (▶ Übersichten 3.7, 3.8) festgelegt, anhand derer die Zielerreichung (in Graden von –2 bis +2) überprüft werden soll. Über diese Indikatoren wird anhand einer 5-stufigen Skala (◘ Tab. 3.1) das erwartete Ergebnis (Bewertungsstufe 0) formuliert. Auf Basis dieser Einschätzung wird eine Skalierung mit zwei Stufen nach oben (+1 „mehr als erwartet“ und +2 „viel mehr als erwartet“) und zwei Stufen nach unten (–1 „weniger als erwartet“ und –2 „viel weniger als erwartet“) definiert. Der für die Zielformulierung verwendete Indikator steht in direkter oder indirekter Beziehung mit den Behandlungsinterventionen und muss messbare Parameter definieren. Die Bildung des Indikators kann nach Schaefer und Kolip (2011) mithilfe der ZWERG-Kriterien erfolgen (▶ Übersicht 3.7).



Tab. 3.1.
Skalierung der Zielerreichung: Stufenskala von -2 bis +2

























Stufe

Beschreibung

+2

Viel mehr als erwartet

+1

Etwas mehr als erwartet

0

Erwartetes Ergebnis

–1

Etwas weniger als erwartet

–2

Viel weniger als erwartet

Anhand der definierten Indikatoren wird in einem nächsten Schritt überlegt, bis zu welchem Zeitpunkt das vordefinierte Ergebnis erwartet werden kann (angestrebter Sollwert).


Übersicht 3.7. ZWERG-Kriterien (Schaefer u. Kolip 2011)





  • Z – Zentrale Bedeutung: Der Indikator liefert aussagekräftige Hinweise auf das jeweilige Ziel


  • W – Wirtschaftlichkeit: Der Indikator lässt sich mit vernünftigem Aufwand erheben


  • E – Einfachheit: Der Indikator ist für jedermann verständlich und nachvollziehbar formuliert


  • R – Rechtzeitigkeit: Die Parameter sind zu dem erforderlichen Zeitpunkt der Zieldefinition verfügbar


  • G – Genauigkeit: Der Indikator bietet einen verlässlichen Maßstab


3.5.2.4 Bewertung der Zielerreichung


Die Festlegung von ein bis drei Zielen pro Zeitfenster hat sich in der Praxis als sinnvoll erwiesen (◘ Tab. 3.2). Der Therapeut sollte einschätzen, welcher Zeitrahmen für die Erreichung des Ziels realistisch ist. Die Bewertung der Zielerreichung erfolgt, wenn möglich, mit dem Rehabilitanden gemeinsam zu dem in der Skala festgelegten Zeitpunkt (Schädler 2006).



Tab. 3.2.
Goal Attainment Scaling (GAS) für Ziel 2 von Herrn Meyer: Freies Stehen, ohne aus der Balance zu kommen (Zeitrahmen: 2 Wochen)

























Stufe

Beschreibung

2: Höchster Entwicklungsstand

Steht für 10 min frei im Raum, kann zwischendurch in den Einbeinstand wechseln, ohne sich festzuhalten; keine Absicherung oder Fachaufsicht erforderlich

1: Höher als erwartet

Steht für 4 min frei bei gleicher Gewichtsverteilung auf beide Beine; kann dabei den Rumpf mühelos rotieren ohne aus der Balance zu kommen und mit den Armen kleine Tätigkeiten ausführen

0: Erwarteter Entwicklungsstand

Steht für 2 min frei auf ebenem Untergrund, bei gleicher Gewichtsverteilung auf beide Beine ohne aus der Balance zu kommen und kann mit den Armen kleine Tätigkeiten ausführen

–1: Geringer als erwartet

Steht für 30 sec frei auf ebenem Untergrund bei ungleicher Gewichtsverteilung auf beide Beine; kommt aus der Balance und benötigt taktile Führung des Rumpfes beim Stehen

–2: Niedrigster Entwicklungsstand

Kann nur durch Stabilisierung der Hüften und Knie für 30 sec stehen; muss sich zusätzlich mit einer Hand noch festhalten


Herr Meyer: Bewertung der Ziele nach der Goal Attainment Scale (GAS)

Phase 3 – Teambewertung einzelner Ziele unter Beachtung der Patientenperspektive (Priorisierung):

Welche Therapieziele sollen ausgewählt werden?

Das Erreichen der folgenden Ziele wird als realistisch eingeschätzt:

1.

Eigenständige Benutzung der Toilette ohne Fremdhilfe.

 

2.

2 min frei stehen können, ohne aus der Balance zu kommen.

 

3.

Lernen, sich ohne Fremdhilfe mithilfe von kompensatorischen Strategien zu be-/entkleiden.

 

Welches Ziel hat für den Patienten die größte Bedeutung?

Phase 4 – Inhaltliche Beschreibung und Formulierung der Ziele auf der Zielerreichungsskala:

Siehe dazu ◘ Tab. 3.2.

Phase 5 – Evaluation der Zielerreichung:

Die Auswertung erfolgt durch die Beurteilung der Performance des Rehabilitanden anhand der Skala.


3.5.2.5 Das ICF-basierte Instrument „Individuelle Zielfindung“


Eine weitere Möglichkeit zur Messung des Behandlungserfolgs ist die Methode der direkten Erfassung der Zielerreichung. Das Instrument Individuelle Zielfindung (IZF) ist ein ICF-basiertes Verfahren der Zielfindung, Verlaufsmessung und Zielüberprüfung (▶ Abb. 3.4, Abb. „Instrument, Individuelle Zielführung (IZF)“ unter www.springer.com/978-3-642-24885-6). Im Hinblick auf das Überprüfen von Behandlungserfolgen spielen besonders Fragen der Veränderungsmessung eine zentrale Rolle. Grundlage aller Veränderungsmessungen ist der Vergleich von Ist-Zuständen zu Behandlungsbeginn mit definierten Soll-Zuständen zum Behandlungsende. Die Methode umfasst Kriterien für die Zielsetzung (Smart-Regel) und Veränderungsmessung (3-stufige Itemskala), ist individuell anwendbar und im Verlauf modifizierbar. Die Outcome-Messung gibt Auskunft über den Grad der Zielerreichung im Zeitverlauf. Zunächst werden gemeinsam mit dem Rehabilitanden die Ziele ausgewählt, dann werden diese vom Rehabilitanden subjektiv nach Wichtigkeit geordnet und in eine Rangfolge gebracht. Abschließend werden die Ziele gemeinsam (Rehateam und Rehabilitand) auf Realisierbarkeit und Priorität hin bewertet und umgesetzt.


3.5.2.6 Definition und Auswahl der Ziele


Zunächst werden unter Berücksichtigung der Patientenperspektive kurz- und mittelfristige Ziele abgeleitet, die in einem Zeitraum von 1–3 Wochen erreicht werden sollen. Die Ziele beziehen sich meist auf die Körperfunktions- und Aktivitätsebene, da sich aufgrund des Erholungsprozesses neurologischer Erkrankungen zu einem frühen Zeitpunkt der Rehabilitation meist noch keine Teilhabeziele ableiten lassen. Der Bezugsrahmen für die Ziele kann sehr unterschiedlich sein: psychisch, motorisch, emotional, psychosozial. Die Ziele sollten für den Rehabilitanden innerhalb des zur Verfügung stehenden (Behandlungs-)Zeitraums erreichbar sein.

Zur Erstellung eines detaillierten Rehabilitationsplans ist es notwendig, fachübergreifende Rehabilitationsziele, sog. interdisziplinäre Ziele zu definieren. Diese werden in den Teamkonferenzen unter interdisziplinärer Perspektive festgelegt, d. h., alle Disziplinen einigen sich auf 1–3 berufsgruppenübergreifende Ziele, denen die fachspezifischen Ziele untergeordnet sind. Das bedeutet, die disziplinenbezogenen Ziele haben direkten Bezug zu den übergeordneten interdisziplinären Zielen. Im Gegensatz zu den Teilhabezielen, die in Form einer vorab definierten Kategorienliste zur Verfügung stehen (▶ Übersicht 3.9), werden die interdisziplinären und fachspezifischen Ziele deskriptiv frei formuliert. Sie orientieren sich an den Kategorien des Instruments „Interdisziplinäre Befunderhebung“ (▶ Abb. „Interdisziplinäre Befunderhebung (IB)“ unter www.springer.com/978-3-642-24885-6).


Übersicht 3.8. ICF-basierende Partizipationsziele – bezogen auf das Patientenklientel der Phase B

Zu Hause-Wohnen:



  • Selbständiges Wohnen ohne externe Unterstützung


  • Zu Hause-Wohnen mit regelmäßiger Hilfe der Kinder/Familie/Angehörigen


  • Zu Hause-Wohnen mit Laienhilfe/angelernten Kräfte über 24 Stunden leben


  • Zu Hause-Wohnen mit regelmäßiger Hilfe der Kinder, Familie im Haus lebend und professionelle Hilfe von morgens bis abends


  • Gesundheitliche Zustandserhaltung bei max. professioneller Hilfe

Wohnen in stationären Einrichtungen:



  • Wohnen in einem Seniorenheim


  • Wohnen in einer vollstationären Pflegeeinrichtung


  • Betreutes Wohnen in Wohngruppen

Dec 11, 2016 | Posted by in NEUROLOGY | Comments Off on Die ICF – Grundlagen und Anwendung in der neurologischen Frührehabilitation

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