Abb. 9.1
a-d. Phasen des Schluckakts: a Phase 1 (orale Vorbereitungsphase), b Phase 2 (orale Phase), c Phase 3 (pharyngeale Phase), d Phase 4 (ösophageale Phase)
Phase 3 – pharyngeale Phase: Diese Phase beginnt mit der Schluckreflextriggerung. Der Bolus wird unter Schutz der Atemwege durch den Pharynx in den Ösophagus (Speiseröhre) befördert (◘ Abb. 9.1 c).
Phase 4 – ösophageale Phase: Der Bolus wird durch peristaltische Bewegungen durch die Speiseröhre in den Magen transportiert (◘ Abb. 9.1 d).
Nach Abschluss der oralen Phase (mit Eintritt der Schluckreflexauslösung) kann der Mensch nicht mehr willentlich in den Steuerungsmechanismus eingreifen. Es beginnt ein fein abgestimmter reflektorischer Bewegungsmechanismus, der zwar innerhalb der oralen Phase willentlich initiiert werden kann, der jedoch nicht beliebig oft ausgelöst werden kann (Selbstversuch: 4-mal kurz hintereinander schlucken – Schluckreflex jedes Mal auslösbar?).
Voraussetzung, dass die Schluckreflextriggerung generiert werden kann, ist ein Bolus. Ohne vorhandenen Bolus ist eine Auslösung des Schluckreflexes i. d. R. nicht möglich. Die bereits beschriebenen Areale zur Auslösung der Reflextriggerung verändern sich im Laufe des Lebens:
Bei jüngeren Menschen wird der Schluckreflex meist schon ausgelöst, sobald der Bolus die vorderen Gaumenbögen passiert hat.
Bei älteren Erwachsenen (etwa ab dem 60. Lebensjahr) verlagern sich die Haupttriggerareale weiter nach hinten (Zungenbein, Valleculae, Rachenhinterwand, Epiglottis).
9.2.2 Der gestörte Schluckakt
9.2.2.1 Symptome einer Schluckstörung
Eine Störung des normalen Schluckakts kann in jeder Phase auftreten und wird als Dysphagie bezeichnet. Dabei können die Störungen unterschiedlichen Ausmaßes sein. Allerdings macht sich eine Schluckstörung zunächst nur als klinische Symptomatik bemerkbar, z. B. durch
vermehrten Speichelfluss,
starkes Husten,
Ausspucken von Nahrung,
erhöhten Beißreflex.
Um eine Schluckstörung sicher diagnostizieren zu können, bedarf es medizinisch-diagnostischer Verfahren (videoendoskopisch, radiologischer Ösophagusbreischluck), da der Schluckakt äußerlich betrachtet oft regelrecht abläuft, während parallel eine deutliche dysphagische Einschränkung besteht.
Die wichtigsten Symptome einer Schluckstörung sind in ▶ Übersicht 9.1 aufgelistet.
Übersicht 9.1. Wichtige Symptome einer Schluckstörung
Leaking: Unkontrolliertes Entgleiten des Bolus, entweder nach außen (aus dem Mund, anteriores Leaking) oder nach hinten in den Rachen (posteriores Leaking; ◘ Abb. 9.2 a).
Abb. 9.2
a-d. Bilder der fibroendoskopischen Diagnostik (FEES): a Leaking, b Residuen, c Penetrationen, d Aspiration
Pharyngeales Pooling: Auffangen von Bolusteilen im Rachen vor der Schluckreflexauslösung.
Residuen (Reste) oral, laryngeal oder/und pharyngeal: Bolusreste verbleiben nach der Auslösung des Schluckreflexes in Mundraum, Rachen oder Kehlkopf (◘ Abb. 9.2 b).
Penetration: Eindringen von Fremdsubstanzen (Speiseteilen) in den Nasenraum (nasale Penetration) oder in den Bereich des Kehlkopfeingangs (laryngeale Penetration). Die Penetration kann vor, während oder nach der Auslösung des Schluckreflexes stattfinden (prä,- intra- oder postdeglutitive Penetration; ◘ Abb. 9.2 c).
Aspiration: Eindringen von Fremdsubstanzen (Speiseresten) in die Luftwege unterhalb der Stimmlippen (also in die Luftröhre). Man unterscheidet eine prä-, intra- oder postdeglutitive Aspiration, da diese zu jedem Zeitpunkt des Schluckakts auftreten kann (◘ Abb. 9.2 d).
Die Aspiration ist die bedrohlichste Schluckstörung, da es zu Lungenembolien oder Pneumonien kommen kann.
9.2.2.2 Ursachen einer Schluckstörung
Die wichtigsten pathophysiologischen Ursachen (krankhaften Veränderungen) einer gestörten Oralmotorik sind in ▶ Übersicht 9.2 zusammengefasst.
Übersicht 9.2. Ursachen einer gestörten Oralmotorik
Gestörtes Kauen
Gestörte Bolussammlung
Gestörte orale Boluskontrolle
Gestörter oraler Bolustransport:
verspätete oder fehlende Schluckreflexauslösung
unvollständiger velopharyngealer (Gaumensegel) Abschluss
unvollständiger Zungenbasis-Rachen-Abschluss
eingeschränkte Hyoid-Larynx-Hebung (Zungenbein-/Kehlkopfhebung)
reduzierte Pharynxkontraktion
eingeschränkter laryngealer Verschluss
Epiglottis-Aryknorpelkippung
Stimmbandabschluss:
gestörte obere Ösophagussphinkteröffnung
9.3 Diagnostik bei Verdacht auf Schluckstörung
Bei Verdacht auf eine dysphagische Beeinträchtigung benötigt man ein möglichst einfach durchzuführendes, schnelles Screeningverfahren, das ohne apparative Eingriffe eine Entscheidung für oder gegen eine Therapie ermöglicht.
Bislang gibt es noch keine Untersuchungsmethode, die eine Schluckstörung ausreichend sicher nachweist (Sensitivität) und gleichzeitig ausreichend sicher ausschließt (Spezifität). Um die Validität der Ergebnisse sicherzustellen, sollte ein Diagnoseverfahren eine Sensitivität von 80–90 % nicht unterschreiten und eine Spezifität über 50 % erfüllen. Es gibt jedoch verschiedene Schnelltests, die ohne großen Zeitaufwand helfen, das Aspirationsrisiko abzuwägen. Über die zugrunde liegende Störung gibt ein solcher Schnelltest jedoch keine Auskunft.
Das größte Problem bei den Schnelltests ist die Tatsache, dass 50 % der aspirierenden Patienten keinen Hustenreiz verspüren und somit klinisch unauffällig bleiben.
9.3.1 Aspirationsschnelltests
9.3.1.1 50-ml-Wassertest mit Überprüfung der pharyngealen Sensibilität
50-ml-Wassertest
Der Patient sollte in möglichst aufrechte Sitzposition gebracht werden. Danach soll er 50 ml Wasser in sukzessiven 5-ml-Schlucken trinken. Im Anschluss muss der Therapeut/Arzt 5 min lang auf mögliche Aspirationsanzeichen (z. B. Husten, Atemnot oder Veränderung der Stimmqualität) achten. Bei Auftreten eines dieser Zeichen ist die weitere Testung sofort abzubrechen. Bei Unsicherheiten sollte zunächst nicht mit 5 ml begonnen, sondern die Trinkmenge langsam von 1 ml über 3 ml (1 Esslöffel) auf 5 ml gesteigert werden.
Überprüfen der pharyngealen Sensibilität
Mit einem Wattestäbchen sollte der Therapeut/Arzt leicht an die Rachenwand tupfen (rechts und links). Sollte die Rachenhinterwand schwer zugänglich sein, so kann die Zunge mit einem Spatel sanft hinuntergedrückt werden. Der Patient soll, falls ihm das aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten und seiner Vigilanz möglich ist, beurteilen, ob er die Berührung spürt, und ob er Seitenunterschiede feststellen kann.
Interpretation
Ist einer der beiden oder sind beide Untertests positiv (also nicht normgerecht), so ist von einem erhöhten Aspirationsrisiko auszugehen.
Kontraindikatoren für den Test sind
bereits erkannte Aspirationsanzeichen,
pathologische Lungenbefunde ([Aspirations-]Pneumonien),
schwere Bewusstseinsstörungen.
9.3.1.2 50-ml-Wassertest mit Pulsoxymetrie
50-ml-Wassertest
Der 50-ml-Wassertest wird wie oben beschrieben durchgeführt.
Pulsoxymetrie
Zusätzlich wird die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen. Die Pulsoxymetrie ist eine unblutige Messung des arteriellen Sauerstoffgehalts. Mit einer klaren Lichtquelle wird die Fingerspitze oder das Ohrläppchen beleuchtet. Dann wird gemessen, wie viel Licht das Blut absorbiert. Der Sättigungswert des Blutes wird aus Zu- und Abnahme des Lichts während des Pulsschlags errechnet. Der Normwert von 95–97 % O2-Sättigung sollte nicht unterschritten werden. Bei älteren Patienten oder Rauchern liegen die Werte i. d. R. bei 92–96 %. Prinzipiell sollte eine Sauerstoffsättigung des Blutes von 90 % nicht unterschritten werden.
Wichtig für diese Kombination aus 50-ml-Wassertest und Pulsoxymetrie ist, dass der Patient in eine aufrechte Sitzposition gebracht wird und das Pulsoxymeter am Finger der nicht paretischen Seite angebracht wird. Während der Gabe des Wassers ist die Sauerstoffsättigung ständig zu beobachten. Nach Gabe der ersten 10 ml Wasser sollte eine kurze Pause von 2 min eingehalten werden, um die höchsten und niedrigsten Sauerstoffwerte zu notieren.
Interpretation
Sollte durch die Gabe des Wassers ein Sauerstoffabfall >2 % auftreten, ist dies ein Indikator für eine Aspirationsneigung.
Kontraindikatoren für diese Methode sind
bereits erkannte Aspirationsanzeichen,
pathologische Lungenbefunde ([Aspirations-]Pneumonien),
schwere Bewusstseinsstörungen,
Bewegungsartefakte wie z. B. Tremor, starkes Umgebungslicht, anomaler Puls.
9.3.1.3 Zusammenfassung
Beide Kombinationen eignen sich hervorragend, um Patienten mit erhöhtem Aspirationsrisiko zu identifizieren. Es werden auch Patienten mit einer stillen Aspiration, d. h. ohne Hustenreiz nach dem Verschlucken entlarvt. Allerdings stellt gerade für Patienten mit einer erhöhten Aspirationsneigung der 50-ml-Wassertest eine deutliche Gefährdung dar.
9.3.1.4 Relevante Überprüfungskriterien in der neurologischen Frührehabilitation
9.3.1.5 Eisstimulation
In der Praxis der neurologischen Frührehabilitation zeigt sich oft, dass die Bewusstseinslage der zu untersuchenden Patienten nicht den Anforderungen dieser beiden Testkombinationen entspricht. Aus diesem Grund ist eine etwas andere Vorgehensweise erforderlich. Die Überprüfung des Schluckreflexes erfolgt durch Eisstimulation an der hinteren Rachenwand, rechts und links neben der Uvula (dem Zäpfchen). In der Regel wird dadurch ein Schluckreflex ausgelöst, der bereits Aufschluss über eine mögliche Aspirationsneigung gibt:
Ist die Auslösung des Schluckreflexes verzögert, so besteht die Gefahr des Leakings, der Penetration bzw. des Poolings. Daraus resultiert letztlich auch eine erhöhte Aspirationsgefahr, und der Patient sollte schluckanbahnende Übungen erhalten.
Ist ein Saugen möglich, so kann, vom kindlichen Schluckakt ausgehend, auf eine erhöhte Aspirationsneigung geschlossen werden, falls der Schluckakt ebenfalls verzögert oder nur kraftgemindert abläuft.
9.3.1.6 Modified Evan’s Blue Dye Test (MEBDT)
Für Patienten mit einer Trachealkanüle (TK) gibt es spezielle Tests. Der MEBDT (modified Evan’ s Blue Dye Test), auch als Färbetest bekannt, ist der am einfachsten durchzuführende Schlucktest bei Patienten mit einer Trachealkanüle. Speisen oder Flüssigkeiten werden mit blauer oder grüner Lebensmittelfarbe eingefärbt. Direkt nach Gabe der Speisen wird das Sekret des Patienten über die Trachealkanüle abgesaugt:
Zeigt sich das Sekret blau oder grün verfärbt, weist dies auf eine Aspiration hin.
Bei nur geringer Aspiration kann es sein, dass die Aspiration nicht sofort erkannt wird. In diesem Fall sollte die Untersuchung an mehreren Tagen wiederholt werden.
Beim Färbetest ist zu beachten, dass unmittelbar vor der Gabe von Speisen die evtl. noch geblockte Trachealkanüle mittels Handdruckmessgerät entblockt werden muss.
Die Blockung ist ein kleiner „Luftballon“, der aufgeblasen wie ein Schutzschild über der Trachea liegt und somit das Eindringen von Speisen verhindert. Da aber bei diesem Test festgestellt werden soll, ob Speisen in die Trachea abgleiten, ist das Entblocken enorm wichtig. Während des Schluckens (zunächst 1 ml) sollte die Kanülenöffnung mit einer Fingerkuppe verschlossen werden. Zum Einatmen sollte die TK wieder freigegeben sein. Unmittelbar nach dem Schlucken sollte tracheal abgesaugt werden:
Bei Erfolg sollte die Menge der Speisen langsam gesteigert werden (3 ml, 5 ml).
Wird gefärbtes Sekret abgesaugt, so ist der Färbetest abzubrechen.
Wird zu einem späteren Zeitpunkt gefärbtes Sekret abgesaugt, so muss dies nicht zwangsläufig auf eine Aspiration hindeuten, da die Schleimhäute ebenfalls Farbreste aufgenommen haben könnten, die das Sekret im Nachhinein eingefärbt haben.
9.3.1.7 Zusammenfassung
Insgesamt zeigen sich bei allen Aspirationsschnelltests einige Vorteile, allerdings auch einige Nachteile (▶ Übersicht 9.3).
Übersicht 9.3. Vor- und Nachteile der Aspirationsschnelltests
Vorteile:
Geringer Zeitaufwand
Entscheidungshilfe für Sofortmaßnahmen, z. B. klinische Schluckuntersuchung
Entscheidungshilfe für die Art der Ernährung
Geringe Kosten
Therapieindikation
Nachteile:
Erhöhtes Aspirationsrisiko
Keine Informationen über Störungsursache