Grundlagen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation



Abb. 1.1.
Dr. med. Wolfgang Gobiet, Ärztlicher Direktor der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf (bis 2003)



Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts publizierte dann die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) ihre „Empfehlungen zur neurologischen Rehabilitation von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C“ (BAR 1995), mit denen eine erste bundesweit einheitliche Definition der frührehabilitativen Behandlung und ihre Einordnung in das Phasenmodell der neurologischen Rehabilitation erfolgte. Die hier getroffenen Aussagen, auf die im Weiteren noch detailliert eingegangen wird, sind auch heute noch – z. B. in der Diskussion mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) – eine verbindliche Verständigungsgrundlage.

Dass nach allgemeinem Verständnis, insbesondere auch durch Festlegung der BAR, die neurologische Frührehabilitation dem Krankenhausbereich zugeordnet ist, führte 2006 zwangsläufig zur Einführung von Diagnosis Related Groups (DRG) in diesem Bereich (Rollnik u. Janosch 2010; Wallesch 2009). Seitdem werden mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS 8-552 (▶ Übersicht 1.1) nicht nur frührehabilitative Leistungen kodiert, sondern auch Strukturvorgaben gemacht, die einen Mindeststandard in der Behandlung (z. B. 300 min tägliche Therapie) sichern sollen.

Die grundsätzlich intendierte Zwitterstellung der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation,



  • einerseits Krankenhaus,


  • andererseits Rehabilitationsbehandlung,

führt zu Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern. Die Argumentationsstränge des MDK gleichen sich dabei immer wieder: Entweder der Patient ist „zu krank“, so dass jegliche Rehabilitationsfähigkeit abgesprochen und eine Frührehabilitation negiert wird, oder aber der Patient ist „nicht krank genug“, so dass die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit infrage gestellt wird.

Dabei kann die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation beides bieten,



  • sowohl eine basale Rehabilitationsfähigkeit überhaupt erst herstellen


  • als auch nicht mehr akut krankenhausbehandlungsbedürftigen – gleichwohl aber immer noch schwer kranken und von lebensbedrohlichen Komplikationen bedrohten – Menschen zu größtmöglicher Teilhabe verhelfen.

Für beide Gruppen von Betroffenen muss die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation die besonderen Mittel des Krankenhauses vorhalten.


Übersicht 1.1. OPS 8-552 (neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation) in der Version 2011

Mindestmerkmale:



  • Frührehateam unter Leitung eines Facharztes für Neurologie, Neurochirurgie, Physikalische und rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin mit der Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie, der über eine mindestens 3-jährige Erfahrung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation verfügt. Im Frührehateam muss der neurologische oder neurochirurgische Sachverstand kontinuierlich eingebunden sein.


  • Standardisiertes Frührehabilitationsassessment zur Erfassung und Wertung der funktionellen Defizite in mindestens 5 Bereichen (Bewusstseinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion) zu Beginn der Behandlung. Der Patient hat einen Frühreha-Barthel-Index nach Schönle bis maximal 30 Punkte zu Beginn der Behandlung.


  • Wöchentliche Teambesprechung mit wochenbezogener Dokumentation bisheriger Behandlungsergebnisse und weiterer Behandlungsziele.


  • Aktivierend-therapeutische Pflege durch besonders geschultes Pflegepersonal auf dem Gebiet der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation.


  • Vorhandensein und Einsatz von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/facio-orale Therapie und/oder therapeutische Pflege (Waschtraining, Anziehtraining, Esstraining, Kontinenztraining, Orientierungstraining, Schlucktraining, Tracheostomamanagement, isolierungspflichtige Maßnahmen u. a.) in patientenbezogenen unterschiedlichen Kombinationen von mindestens 300 Minuten täglich (bei simultanem Einsatz von zwei oder mehr Mitarbeitern dürfen die Mitarbeiterminuten aufsummiert werden) im Durchschnitt der Behandlungsdauer der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation.



1.2 Frührehabilitation im Kontext des BAR-Phasenmodells


Das Phasenmodell der BAR (1995) beschreibt eine durchgängige Behandlungskette neurologischer und neurochirurgischer Patienten/Rehabilitanden von



  • der Akutbehandlung (Phase A) über


  • die Frührehabilitation (Phase B),


  • nachfolgende Rehabilitation (Phasen C, D und E) bis hin zu


  • einer funktionserhaltenden Dauerpflege (Phase F).

In ◘ Abb. 1.2 ist das Phasenmodell in übersichtlicher Form dargestellt, und in ◘ Tab. 1.1 sind die Hauptcharakteristika der BAR-Phasen zusammengefasst. Selbstverständlich muss ein Patient/Rehabilitand nicht alle Phasen und schon gar nicht in der durch die alphabetische Sortierung suggerierten Reihenfolge durchlaufen.

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Abb. 1.2.
Phasenmodell der BAR (1995)



Tab. 1.1.
Kennzeichen der einzelnen Behandlungsphasen nach dem Modell der BAR (1995)






































BAR-Phase

Kennzeichen der Phase

Hauptkostenträger

A

Akutbehandlung im Krankenhaus

Krankenversicherung

B

Frührehabilitation: schwer betroffener, postakuter Patient, für den noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen, auch beatmete Patienten

Krankenversicherung

C

Rehabilitationsphase, in welcher der Patient noch in hohem Maß auf pflegerische und medizinische Versorgung angewiesen ist

Krankenversicherung

D

Rehabilitationsphase, in welcher der Patient bereits weitestgehende Selbständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens erreicht hat, bekannteste Maßnahmeart ist die Anschlussheilbehandlung (AHB)

Rentenversicherung

E

Medizinisch-berufliche Rehabilitation (mbR) in einer Phase-II-Einrichtung (und ambulante Leistungen)

Rentenversicherung

F

Funktionserhaltende Dauerpflege in spezialisierten Einrichtungen

Pflege- bzw. Krankenversicherung

(Modifiziert nach Rollnik u. Janosch 2010)

Nach der BAR wird die Phase B als „Behandlungs-/Rehabilitationsphase, in der noch intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden müssen“ definiert (BAR 1995).

Die Betonung liegt auf der Formulierung „vorgehalten“, d. h., diese Möglichkeiten müssen nicht zwingend eingesetzt werden, um eine Behandlung in der Phase B zu begründen. Weiterhin solle in Phase B eine „Fortführung der in Phase A begonnenen kurativmedizinischen Maßnahmen inklusive ggf. erforderlicher intensivmedizinischer Behandlung“ erfolgen. Folgende kurative Aufgaben werden von der BAR für die Behandlung in Phase B genannt:



  • „medizinische Diagnostik der ZNS-/PNS-Schädigungen und ihrer Ursachen sowie der Grund-/Begleiterkrankungen und weiterer Verletzungen (ätiologische und Funktionsdiagnostik),


  • kurativmedizinische Behandlung der neurologischen Schädigung sowie der Grund-/Begleiterkrankungen und weiterer Verletzungen (die Beherrschung lebensbedrohlicher und evtl. bei der Mobilisation möglicher Komplikationen muss möglich sein),


  • permanente Überwachung des Krankheitsverlaufs, insbesondere Neuro-Monitoring und Intensivpflege“ (BAR 1995).


1.3 Strukturen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation in Deutschland


Obwohl die Phase-B-Frührehabilitation von den Kostenträgern leistungsrechtlich zumeist als Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) angesehen wird, sind die Regelungen von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Dies spiegelt sich beispielsweise in einer divergierenden Berücksichtigung der Frührehabilitation in den Krankenhausplänen wider (◘ Tab. 1.2, aktuelle Erhebung der Deutschen Krankenhausgesellschaft [DKG] für September 2010). Die Berücksichtigung im Krankenhausplan bedeutet, dass sich das jeweilige Bundesland grundsätzlich an den investiven Kosten der Einrichtung beteiligt. Dessen ungeachtet wird in einigen Bundesländern, in denen sogar einzelne Einrichtungen in den Plan aufgenommen wurden (z. B. Sachsen, Nordrhein-Westfalen), die frührehabilitative Behandlung der Phase B regelhaft als Rehabilitationsbehandlung (§ 40 SGB V) angesehen.


Tab. 1.2.
Die Frührehabilitation Phase B in den Krankenhausplänen der Länder




























































Bundesland

Inhalt

Baden-Württemberg

Ausweisung der Frührehaplätze (Apalliker) pro Krankenhaus

Bayern

Ausweisung der Phase-B-Betten. Keine Zurechnung der Phase B zur Akutversorgung

Berlin

Keine Angaben (Entwurf 2010: kein Ausweis)

Brandenburg

Planung der neurologischen Frührehabilitation: Unter Bezug auf das Phasenmodell der BAR erfolgt eine explizite Nennung von 3 Einrichtungen für die neurologische Frührehabilitation Phase B, ohne dass die nach den Regeln des DRG-Systems bestehenden Abrechnungsmöglichkeiten für Leistungen der Frührehabilitation für andere Krankenhäuser eingeschränkt werden

Bremen

Prognose über neurologische Frührehabilitation

Hamburg

Ausweisung der Frührehaplätze pro Krankenhaus

Hessen

Ausweisung des landesweiten und des regionalen Gesamtbedarfs sowie der standortbezogenen Kapazitäten für die Versorgung von schwer Schädel-Hirn-Verletzten der Frühphase B

Mecklenburg-Vorpommern

Ausweisung der Frührehaplätze pro Krankenhaus

Niedersachsen

Keine Angaben

Nordrhein-Westfalen

Zuordnung von Frührehaplätzen auf Fachabteilungen und z. T. pro Krankenhaus

Rheinland-Pfalz

Keine Angaben

Saarland

Krankenhausindividuelle Festlegungen

Sachsen

Namentliche Nennung der Krankenhäuser und Ausweis der Kapazitäten zur akutstationären Behandlung von Patienten mit schweren und schwersten Hirnschädigungen, neurologische Frührehabilitation Phase B

Sachsen-Anhalt

Keine Angaben

Schleswig-Holstein

Ausweisung der Frührehaplätze pro Krankenhaus

Thüringen

Ausweisung von 5 Einrichtungen, die nach § 108 Nr. 3 SGB V einen Versorgungsvertrag für die Neurologie Phase B besitzen

(DKG 2010)

Erbracht werden die Leistungen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation zumeist in neurologischen Fachkliniken, seltener in der Abteilung eines (Akut-)Krankenhauses (Stier-Jarmer et al. 2002). Dabei haben die im OPS 8-552 genannten Strukturmerkmale auch eine gewisse Schutzwirkung, die dazu führt, dass diese Leistung nur von spezialisierten Anbietern erbracht und unseriöse Angebote abgewehrt werden.

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Dec 11, 2016 | Posted by in NEUROLOGY | Comments Off on Grundlagen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation

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