CRB-Score
Mortalitätsrisiko
0
<2 %
1–2
8–10 %
≥3
>20 %
16.1.1.13 Besondere Aspekte im Rahmen der neurologischen Frührehabilitation
Eine Pneumonie wird die Durchführung frührehabilitatorischer Maßnahmen, sofern diese mit körperlicher Anstrengung verbunden sind, erheblich einschränken. Die Rehabilitationsmaßnahmen können i. d. R. jedoch behutsam und unter Beachtung der noch eingeschränkten Leistungsbreite des rekonvaleszenten Patienten wiederaufgenommen werden, wenn folgende Kriterien vorliegen:
Atemfrequenz <26/min,
Sauerstoffsättigung (SaO2) ≥90 % (bei nicht mehr als 2 l/min O2 nasal),
systolischer Blutdruck ≥90 mmHg,
Herzfrequenz <90/min,
Entfieberung, Temperatur rektal <38,3 °C,
keine pneumoniebedingte akute Bewusstseinstrübung (mehr),
orale Antibiose möglich.
16.1.1.14 Gesetzliche Grundlagen
Auf der Grundlage von § 91 Abs. 7 SGB V hat der Gemeinsame Bundesausschuss eine Dokumentationspflicht für den Leistungsbereich „ambulant erworbene Pneumonie“ für Patienten, die mindestens 18 Jahre alt sind, beschlossen. Dokumentationsbögen finden sich auf der Homepage der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
16.1.2 Nosokomiale bakterielle Pneumonie
Als nosokomial werden Pneumonien bezeichnet, die in einer stationären (ggf. auch zuweisenden) Krankenanstalt erworben wurden, die Pneumonie zum Zeitpunkt des Beginns eines stationären Krankenhausaufenthalts also weder manifest noch in Inkubation vorhanden war.
Die Kenntnis der auslösenden Pathomechanismen ist wichtig für das Verständnis der präventiven Maßnahmen. Diese sind
Immuninkompetenz,
Besiedelung des Oropharynx mit pathogenen Mikroorganismen anstelle der natürlichen Flora,
Beeinträchtigung der (laryngealen) Schutzreflexe und
Vordringen pathogener Mikroorganismen in die tieferen Atemwege.
16.1.2.1 Präventive Maßnahmen, soweit sie nicht in den Bereich der Intensivmedizin gehören
Nosokomiale Pneumonien stellen eine therapeutische Herausforderung dar und verschlechtern die Prognose erheblich. Der Prävention sowohl auf der Intensiv- als auch auf der Normalstation kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Erforderliche Maßnahmen sind
hygienische Händedesinfektion vor und nach jedem Kontakt mit Trachealtubus, Tracheostoma oder Beatmungszubehör (z. B. auch mit Sauerstoffbefeuchtern) und nach jedem Kontakt mit Schleimhäuten, respiratorischem Sekret oder Gegenständen, die damit kontaminiert sind;
Tragen von keimarmen Einmalhandschuhen bei nicht zu vermeidendem Kontakt mit Schleimhäuten, respiratorischem Sekret oder Gegenständen, die damit kontaminiert sein können;
tägliche Desinfektion von Medikamentenverneblern;
48-stündliche Wiederaufbereitung von Sauerstoffbefeuchtern und Zubehör;
effektive Behandlung von Grundkrankheiten/Stoffwechselführung;
Fortführung der physikalischen Atemtherapie, auch wenn die Patienten auf die Normalstation verlegt worden sind,
Fortführung einer adäquaten Schmerztherapie, möglichst ohne sedierende Nebeneffekte;
möglichst frühzeitiger Verzicht auf Ernährungssonden;
bei unvermeidbarer Sondenernährung: Regurgitationen vermeiden (z. B. durch Oberkörperhochlagerung, wenn dazu keine Kontraindikationen bestehen);
möglichst Verzicht auf eine Stressulkusprophylaxe;
möglichst frühzeitige Mobilisierung.
16.1.2.2 Risikofaktoren für das Auftreten einer nosokomialen Pneumonie
Lebensalter >65 Jahre (oder <1 Jahr),
bronchopulmonale Vorerkrankungen (z. B. chronisch-obstruktive Lungenerkrankung [COPD]),
Vorbehandlung mit Antibiotika,
Erkrankungen mit Beeinträchtigung der Immunkompetenz,
Erkrankungen mit Beeinträchtigung des Bewusstseinszustands,
vorangegangene thorakale oder abdominelle operative Eingriffe,
Notwendigkeit maschineller Beatmung.
16.1.2.3 Klinik und Diagnostik
Klinik und Diagnostik sind in den Grundzügen gleich wie bei der ambulant erworbenen Pneumonie. Entsprechend dem schwereren Krankheitsbild, dem größeren Risiko für komplizierte Verläufe und vielfach vorhandener Multimorbidität richten sich Umfang und Häufigkeit der klinischen, laborchemischen, mikrobiologischen und bildgebenden Diagnostik nach den Kriterien der Intensivmedizin (s. u.), wie überhaupt die Indikation für intensivmedizinische Überwachung und Therapie bei Patienten mit nosokomialer Pneumonie großzügig zu stellen ist.
16.1.2.4 Akutdiagnostik
Obligate Maßnahmen
Mikrobiologische Sputumdiagnostik (aber nur von makroskopisch eitrigem Sputum); die Probe ist valide, wenn sie >25 Granulozyten und <10 Plattenepithelien pro Gesichtsfeld (bei 100facher Objektivvergrößerung) enthält;
mindestens 2 Blutkulturen (jeweils aerob und anaerob) von unterschiedlichen Punktionsstellen.
Fakultative Maßnahmen
Pneumokokkenantigennachweis im Urin,
Legionella pneumophila-Antigennachweis im Urin bei V.a. Legionellenpneumonie (ein negativer Befund schließt aber eine Legionellenpneumonie nicht aus).
Pleuraergusspunktat
Wird (aus anderen Gründen) eine Thorakozentese durchgeführt, sollten folgende Untersuchungen im Punktat/aus dem Punktat durchgeführt werden:
pH,
Eiweiß,
Laktatdehydrogenase (LDH),
Glukose,
Zytologie,
Gramfärbung,
Anlegen von Kulturen.
Tracheobronchialsekret
Gewinnung mikrobiologisch zu untersuchenden Materials durch tiefe Absaugung (Sterilkompartment) nach initialer Absaugung des Sekrets im Tubus. Die Gewinnung von Material durch Anwendung einer geschützten Bürste oder eine bronchoalveoläre Lavage (BAL) sind im Rahmen einer Bronchoskopie möglich.
16.1.2.5 Therapie
16.1.2.6 Kalkulierte Antibiotikatherapie
Grundsätzlich ist eine gezielte Antibiotikatherapie anzustreben, durch Bestimmung von Erreger und Resistenz. Wenn resp. solange das nicht möglich ist, gibt der aus den Risikofaktoren abgeleitete Score in ◘ Tab. 16.2 einen Hinweis auf den mutmaßlichen Erreger und kann, in Kombination mit der klinischen Gesamtsituation des Patienten (Gruppenzuordnung), die Entscheidung für eine kalkulierte antibiotische Initialtherapie leiten (Paul-Ehrlich-Gesellschaft 2010).
Tab. 16.2.
Ermittlung des Risikoscores
Risikofaktoren | Punktezahl |
---|---|
Alter >65 Jahre | 1 |
Strukturelle Lungenerkrankung | 2 |
Antiinfektive Vorbehandlung | 2 |
Beginn der Pneumonie nach dem 5. Krankenhaustag | 3 |
Schwere respiratorische Insuffizienz | 3 |
Extrapulmonales Organversagen | 4 |
Der Risikoscore ergibt sich als Summe aller tatsächlich vorliegenden Risikopunkte |
Die Gruppenzuordnung erfolgt nach klinischen Kriterien und dem Risikoscore (als der Summe der vorliegenden Risikopunkte (Paul-Ehrlich-Gesellschaft 2010). Sie ist in ◘ Tab. 16.3 zusammengefasst.
Tab. 16.3.
Gruppenzuordnung nach Klinik und Risikoscore
Klinische Kriterien | Risikoscore | Gruppe |
---|---|---|
Spontan atmend | ≤2 | I |
Spontan atmend | 3–5 | II |
Beatmet | 0 | II |
Beatmet oder spontan atmend | ≥6 | III |
Die Optionen für eine kalkulierte Initialtherapie (abhängig von der Gruppenzuordnung in ◘ Tab. 16.3) sind in den ◘ Tab. 16.4 (Gruppe 1), ◘ Tab. 16.5 (Gruppe 2) und ◘ Tab. 16.6 (Gruppe 3) dargestellt.
Tab. 16.4.
Optionen für eine antibiotische Initialtherapie (Monotherapie) für Gruppe-I-Patienten (max. 2 Risikopunkte)
Antibiotikum | Standarddosis parenteral |
---|---|
Ampicillin/Sulbactam | 3×3 g |
Amoxicillin/Clavulansäure | 3×2,2 g |
Cefuroxim | 3×1,5 g |
Cefotaxim | 3×2 g |
Ceftriaxon | 1×2 g |
Levofloxacin | 1×0,5 g |
Moxifloxacin | 1×0,4 g |
Ertapenem | 1×1 g |
Tab. 16.5.
Optionen für eine antibiotische Initialtherapie (Monotherapie) für Gruppe-II-Patienten (3–5 Risikopunkte oder beatmet)
Antibiotikum | Standarddosis |
---|---|
Piperazillin/Tazobactam | 3×4,5 g |
Piperazillin + Sulbactam | 3×4 g + 3×1 g |
Cefepim | 3×2 g |
Doripenem | 3×0,5 g |
Imipenem | 3×1 g |
Meropenem | 3×1 g |
Tab. 16.6.
Optionen für eine antibiotische Initialtherapie für Gruppe-III-Patienten (≥6 Risikopunkte)
Antibiotikum | Standarddosis |
---|---|
Piperazillin/Tazobactam oder | 3×4,5 g |
Piperazillin + Sulbactam oder | 3×4 g + 3×1 g |
Ceftazidim oder | 3×2 g |
Cefepim oder | 3×2 g |
Doripenem oder | 3×0,5 g |
Imipenem oder | 3×1 g |
Meropenem | 3×1 g |
jeweils | |
+ Ciprofloxacin oder | 3×0,4 g |
+ Levofloxacin oder | 2×0,5 g |
+ Fosfomycin oder | 3×5 g |
+ Aminoglycosid | |
Kombiniert wird ein Antibiotikum aus der oberen Gruppe mit einem aus der unteren Gruppe |
16.1.2.7 Adjuvante Therapie
Sauerstoffgabe bei Patienten mit arterieller Hypertonie über Mund-Nasen-Maske oder Nasensonde,
Thromboseprophylaxe, Atemgymnastik,
großzügige Indikationsstellung für intensivmedizinische Überwachung und Therapie.
16.1.2.8 Prognose
Trotz adäquater Behandlung ist die Letalität der nosokomialen Pneumonie hoch und wird mit bis zu über 50 % angegeben.
16.1.2.9 Gesetzliche Regelungen
Gemäß Infektionsschutzgesetz ist das gehäufte Auftreten nosokomialer Infektionen dem für die Krankenhauseinrichtung zuständigen Gesundheitsamt zu melden, wenn ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich oder zu vermuten ist. Jeweils aktualisierte Regelungen zur Surveillance gibt das Robert-Koch-Institut (2000) heraus.
16.1.3 Nicht-bakterielle infektive Pneumonien
16.1.3.1 Mykotische Pneumonien
Antibiotikavorbehandlung, medikamentöse (Kortikoide, Zytostatika) oder krankheitsbedingte (HIV, Leukosen u. a.) Immunsuppression sind die häufigsten Voraussetzungen für das Angehen einer Pilzinfektion. Der Verdacht auf Vorliegen einer Pilzpneumonie ergibt sich auch aus dem Röntgenbild. Die Diagnose wird durch den möglichst aus bronchoskopisch (Sterilkompartment) gewonnenem Aspirat geführten Keimnachweis erhärtet. Die serologische Diagnostik kann nur bei Titeranstieg Hinweise auf eine aktuell vorliegende Infektion geben. Die Candida-Pneumonie tritt häufig auf, die Aspergillus-Pneumonie mit Sepsis tritt meist im Endstadium immuninkompetenter Patienten auf.
16.1.3.2 Therapie der Candida-Pneumonie
Kombination von Amphotericin B und Flucytosin, evtl. Ketoconazol. Auf die einschlägigen Lehrbücher wird ausdrücklich verwiesen.
16.1.3.3 Therapie der Aspergilluspneumonie/des Aspergilloms
Bei Operabilität chirurgische Entfernung, sonst Kavernendrainage und Instillation von Antimykotika, evtl. in Kombination mit systemischer antimykotischer Therapie.
Bezüglich weiterer mykotischer Pneumonien (Mucorpneumonie, Kokzidoidomykose, Histoplasmosis capsulatum) und deren Therapie wird auf die einschlägigen Lehrbücher und Monographien verwiesen.
16.1.3.4 Pneumocystis carinii-Pneumonie
Prädisposition: Immuninkompetenz.
Erreger: Pneumocystis carinii (Protozoon oder Pilz?).
Klinisch: Pneumoniesymptomatik.
Radiologisch: bilaterale Infiltrate.
Diagnostik: bronchoskopische Bürstenzytologie, Biopsie oder bronchoalveoläre Lavage (BAL).
Therapie: in der Regel Trimethoprim/Sulfamethoxazol oder Pentamidin; frühzeitig in Kombination mit Kortison.
16.1.3.5 Mykoplasmenpneumonie
Mycoplasma pneumoniae ist der klassische Erreger der sog. atypischen Pneumonie. Sie tritt oft endemisch auf. Der Verdacht auf ein Vorliegen ergibt sich bei Husten, Auswurf, Pharyngitis und intitial oft hohem Fieber sowie aus dem röntgenologischen Nachweis eines uncharakteristischen Lungeninfiltrats bei negativem Auskultationsbefund. Der Nachweis erfolgt durch signifikanten Anstieg von Komplementbindungsreaktion (KBR) und Hemmtest im Verlauf von 2–4 Wochen.
16.1.3.6 Therapie bei Erwachsenen
Tetracycline für mind. 2 Wochen. Die Prognose ist meist auch ohne Therapie gut.
16.1.3.7 Viruspneumonie
Viruspneumonien können durch verschiedenste RNA- und DNA-Viren hervorgerufen werden. Sie treten dann im Rahmen der systemischen Virusinfektion (Influenza, Masern, Zytomegalie, Varizella zoster-Infektion etc.) auf.
16.1.3.8 Therapie
Bei frühem Therapiebeginn können Virostatika eingesetzt werden; Antibiotika sind i. d. R. nur bei bakteriellem Superinfekt indiziert.
16.2 Diabetes mellitus
Unter den Begleiterkrankungen von Patienten zur neurologischen Frührehabilitation sind diejenigen häufig, die einen Gefäßrisikofaktor darstellen. Dazu gehört der Diabetes mellitus. In der Regel werden Diabetiker bereits diätetisch und medikamentös eingestellt sein, wenn sie zur neurologischen Frührehabilitation vorgestellt werden. In der Phase der Frührehabilitation ist jedoch keine stabile Stoffwechselsituation zu erwarten, so dass der Rehabilitationsmediziner die pathophysiologischen Grundlagen des Diabetes mellitus, die Zeichen möglicher Stoffwechselentgleisungen und die Grundlagen der Therapie und der Therapiekontrolle kennen muss, um ggf. zielgerichtet reagieren zu können.
Ätiologie, Pathogenese und Klassifikation
Als Folge einer gestörten Insulinsekretion, einer verminderten Insulinwirkung oder einer Kombination von beidem kommt es zur Ausbildung des Leitbefunds des Diabetes mellitus, der chronischen Erhöhung des Blutzuckers (BZ), der Hyperglykämie:
Beim Diabetes mellitus Typ I kommt es zu einem absoluten Insulinmangel infolge immunvermittelter oder kryptogener, jedenfalls progredienter Zerstörung der Langerhans-Inselzellen im Pankreas.
Der Diabetes mellitus Typ II ist bedingt durch eine gestörte Insulinsekretion und/oder eine Insulinresistenz.
Für beide Diabetestypen (I und II) liegt eine genetische Determiniertheit vor. Aufgrund der unterschiedlichen Pathomechanismen ergeben sich unterschiedliche Behandlungsstrategien, weshalb die Diabetestypen später getrennt betrachtet werden.
Diagnosestellung
Ein Diabetes mellitus gilt bei folgenden Konstellationen als gesichert, nämlich bei
klassischen Symptomen und Gelegenheits-BZ >200 mg/dl,
klassischen Symptomen und Gelegenheits-BZ >100 mg/dl, aber <200 mg/dl, wenn wiederholter Nüchtern-BZ1 ≥126 mg/dl oder
klassischen Symptomen und Gelegenheits-BZ >100 mg/dl, aber <200 mg/dl und Nüchtern-BZ <126 mg/dl, wenn venöser 2-h-BZ im oGTT ≥120 mg/dl.
Das glykosylierte Hämoglobin (HbA1 oder HbA1c) eignet sich als Langzeitblutzuckerwert (biochemischer Memory-Effekt) zur Einschätzung der Güte der Stoffwechseleinstellung im vergangenen Mehrtageszeitraum (Surrogatparameter).
16.2.1 Diabetes mellitus Typ I
Klassische Symptome, die häufig akut bis subakut auftreten, sind
Polyurie,
Polydipsie,
Gewichtsverlust,
Ketoazidose.
Der Zuckerstoffwechsel ist häufig labil.
16.2.1.1 Therapie des Typ-I-Diabetikers
Da dem Typ-I-Diabetes ein absoluter Insulinmangel zugrunde liegt, ist zur Behandlung regelmäßig eine Insulintherapie erforderlich. Es bestehen ein Grundbedarf (basaler Insulinbedarf; ca. 40–50 % des Gesamtbedarfs) sowie ein additiver Insulinbedarf in Abhängigkeit von Mahlzeiten (prandialer Insulinbedarf; 50–60 % des Gesamtbedarfs). Beim Gesunden beträgt die prandiale Insulinsekretion ca. 1,5 E/10 g mit der Nahrung zugeführter Kohlenhydrate bei gewichtserhaltender Ernährung. Sie ist vernachlässigbar für zugeführtes Eiweiß und Fett. Der Insulinbedarf des einzelnen Diabetikers ist aber zusätzlich abhängig von der individuellen Insulinempfindlichkeit und der körperlichen Aktivität (denn der Glukoseverbrauch in der Skelettmuskulatur erfolgt insulinunabhängig).
Ziele der Diabetestherapie im Rahmen der neurologischen Frührehabilitation sind
die Prävention von Stoffwechselentgleisungen und
die (Fortführung der) Prävention Diabetes-assoziierter Folgeschäden (v. a. Neuropathie, Angiopathie, Nephropathie).
Diese Therapieziele können mit den beiden Grundpfeilern der Diabetestherapie, nämlich einer diabetesgerechten Ernährung und der medikamentösen Therapie erreicht werden.
16.2.1.2 Ernährungsempfehlungen (Typ-I- und Typ-II-Diabetiker)
Ein normalgewichtiger Diabetiker sollte sich ausgewogen ernähren. Die Anteile einer ausgewogenen Ernährung sind in ◘ Tab. 16.7 zusammengestellt.
Tab. 16.7.
Zusammensetzung einer ausgewogenen Ernährung und spezifische Brennwerte
Nahrungsbestandteil | Prozentualer Kalorienanteil | Spezifischer Brennwert |
---|---|---|
Kohlenhydrate | ca. 50 % | 4 kcal/g |
Eiweiß | ca. 20 % | 4 kcal/g |
Fett | ca. 30 % | 9 kcal/g |
Alkohol | 7 kcal/g |
Der absolute Kalorienbedarf ist abhängig von Lebensalter, Geschlecht und körperlicher Aktivität. Darüber hinaus spielen aber auch nicht näher bekannte individuelle Faktoren eine wichtige Rolle. Der tatsächliche individuelle Kalorienbedarf kann am besten über eine sorgfältige Ernährungsanamnese (Kalorienberechnung anhand der anamnestisch erhobenen tatsächlichen individuellen Essgewohnheiten) und die Beurteilung der Veränderung des Körpergewichts im Erhebungszeitraum ermittelt werden.
Übergewichtige Diabetiker sollten über eine behutsame Reduktionskost eine Gewichtsreduktion erzielen. Bei der Kalkulation einer Reduktionskost sind die spezifischen und die o. g. Empfehlungen zur Nahrungszusammensetzung zu beachten. Unter Berücksichtigung individueller Vorlieben und Abneigungen lässt sich daraus ein individueller, verträglicher Speiseplan (mit sog. Nahrungsmittelaustauschtabellen) vereinbaren.
Für die diabetische Stoffwechsellage hat bei gegebenem Kohlenhydratanteil die Art der Kohlenhydrate Einfluss auf den Verlauf des Blutzuckertagesprofils: Bei stark schwankenden BZ-Werten kann eine Glättung durch die Verwendung von Nahrungsmitteln mit nur langsam resorbierbaren Kohlenhydraten versucht werden (ballaststoffreiche Nahrungsmittel).
Es sollten 4–6 Mahlzeiten eingenommen werden:
3 Hauptmahlzeiten und
1–3 kleinere Zwischenmahlzeiten.
Bei der i. d. R. erforderlichen Insulintherapie ist der Spritz-Ess-Abstand zu berücksichtigen (s. u.).
16.2.1.3 Medikamentöse Therapie (Insulin)
In der Regel wird der Typ-I-Diabetiker auf ein intensiviertes Therapieschema eingestellt sein.:
Basis-Bolus-Therapie
Prinzip ist die strikte Trennung zwischen der Substitution von basalem (lang wirkendem) und prandialem (kurz wirkendem) Insulin.
Typische Dosis:
24 IE Basalinsulin/24 h und
1,0–1,5 IE/10 g Kohlenhydrate; Spritz-Ess-Abstand 5–15 min.
Dosierung
Bei einer Kost mit 2.000 kcal/Tag und einem Kohlenhydratanteil von 1.000 kcal entsprechend 250 g Kohlenhydrate kann das folgendem Dosierungsschema entsprechen:
20 IE/24 h Basalinsulin 1-mal/Tag s.c.,
25 IE/24 h Normalinsulin, auf mehrere Portionen verteilt, jeweils vor den Hauptmahlzeiten s.c.
In Abhängigkeit vom Ausfall der Kontrollparameter (s. o.) kann eine Dosiskorrektur erforderlich werden, um die Therapieziele zu erreichen. Solche Korrekturen erfolgen behutsam2 und etwa nach folgender Regel:
1 IE Normalinsulin oder Analoginsulin zusätzlich wird den BZ-Wert um ca. 30–40 mg/dl senken.
10 g Kohlenhydrate zusätzlich werden die BZ-Konzentration um ca. 30–40 mg/dl anheben.
Insuline
Insuline werden nach ihrer Herstellung (Humaninsulin, Schweineinsulin) und nach ihrer Wirkdauer unterschieden. Sie werden in Konzentrationen von 40 IE/ml und 100 IE/ml hergestellt. Die von der Pharmaindustrie angebotene Produktpalette ist groß, daher wird hier auf die Nennung einzelner Insuline verzichtet. Innerhalb einer stationären Einrichtung empfiehlt sich aus Gründen der Therapiesicherheit die Beschränkung auf einige wenige Insulinpräparationen.
Es gelten in etwa die in ◘ Tab. 16.8 aufgezeigten pharmakodynamischen Kenngrößen.
Tab. 16.8.
Kenngrößen typischer Insuline
Art des Insulins | Wirkbeginn [h] | Wirkmaximum [h] | Wirkdauer [h] |
---|---|---|---|
Ultrakurz wirkende Insuline | 0,25 | 1 | 2–3 |
Kurz wirkende Insuline | 0,5 | 2 | 4–6 |
Mittellang wirkende Insuline | 1–2 | 4–6 | 8–12 |
Lang wirkende Insuline | 3–4 | 10–14 | 16–20 |
Ultralang wirkende Insuline | 3–4 | 10–16 | 20–30 |
Die angegeben Zeiten verlängern sich zum bei größeren Einzeldosen und immer dann, wenn die subkutane Resorption des applizierten Insulins verzögert abläuft (z. B. bei Mikrozirkulationsstörungen) |
Ob Insuline subkutan mittels Insulinspritze oder mithilfe eines Pen injiziert werden, ist für die Wirkung und die Dosierung unerheblich. Zu beachten ist allerdings, dass die Pen-gängigen Insuline nur mit einer Konzentration von 100 IE/ml, die mit einer Insulinspritze zu verabreichenden Insuline sowohl mit einer Konzentration von 40 IE/ml als auch mit einer Konzentration von 100 IE/ml angeboten werden, was bei der Auswahl der Insulinspritzen zu berücksichtigen ist (Skalierung beachten, sonst Fehldosierung!).
Dosisanpassung:
Eine Dosissteigerung wird regelmäßig dann erforderlich sein, wenn durch Infektionen, Fieber, Dehydratation, Operation o.Ä. die Insulinresistenz (passager) zunimmt.
Eine Dosisreduktion wird regelmäßig erforderlich sein bei körperlicher Belastung, Nebennierenrindeninsuffizienz, Leberinsuffizienz, schwerer Niereninsuffizienz.
Insulinpumpentherapie
Indikationen sind
labiler Diabetes,
ausgeprägte Hypoglykämieneigung,
nicht erreichte Therapieziele (s. o.) trotz optimierter Basis-Bolus-Therapie,
morgendlich sehr hohe präprandiale BZ-Werte,
sehr niedriger Insulinbedarf,
Schwangerschaft,
unvermeidbar unregelmäßiger Tagesablauf.
Die Therapieführung von Patienten mit Insulinpumpen muss in enger Anbindung an das Diabeteszentrum erfolgen.
16.2.1.4 Therapiekontrolle
Die o. g. Ziele der Diabetestherapie können bei den in ◘ Tab. 16.9 beschriebenen BZ-Werten erreicht werden.
Tab. 16.9.
Zielwerte für eine optimierte Diabetestherapie
Blutzuckerabnahme | BZ-Wert |
---|---|
Präprandialer BZ | 91–120 mg/dl |
Postprandialer BZ (venös oder kapillär) | 90–180 mg/dl |
BZ-Werte vor dem Schlafengehen | 110–135 mg/dl |
HbA1c | <7 % |
Alle 2 Wochen oder bei Diskrepanzen zwischen den postprandialen BZ- und den HbA1c-Werten soll ein BZ-Tagesprofil mit 6 Messungen vorgenommen werden. Nächtliche BZ-Messungen (zwischen 2–4 Uhr nachts) sollen bei Verdacht auf oder bei Neigung zu nächtlichen Hypoglykämien durchgeführt werden.
16.2.1.5 Therapie in Sondersituationen
Operationen
Die prä- und postoperative Stoffwechselführung des Diabetikers muss in enger interdisziplinärer Abstimmung zwischen Anästhesist, Chirurg und Diabetologe erfolgen. Im postoperativen Postaggressionsstoffwechsel ist mit einer Zunahme der Insulinresistenz zu rechnen, so dass mit einem vorübergehend erhöhten Insulinbedarf gerechnet werden und eine strenge Flüssigkeitsbilanzierung erfolgen muss.
Schwangerschaft
Eine strenge Stoffwechselführung ist zur Vermeidung erhöhter Risiken für Mutter und Kind unabdingbar. Eine enge Zusammenarbeit mit einem diabetologischem Zentrum und einem Gynäkologen ist erforderlich. Es gelten die in ◘ Tab. 16.10 aufgeführten Zielwerte, die nur wenn unbedingt nötig nach oben korrigiert werden dürfen.
Tab. 16.10.
Zielwerte für eine optimierte Diabetestherapie in der Schwangerschaft
Blutzuckerabnahme | BZ-Wert |
---|---|
Präprandialer BZ | <90 mg/dl |
BZ 1 h postprandial (venös oder kapillär) | <140 mg/dl |
BZ 2 h postprandial (venös oder kapillär) | <120 mg/dl |
HbA1c | <6 % |
16.2.1.6 Besondere Aspekte im Rahmen der neurologischen Frührehabilitation
Patienten mit Typ-I-Diabetes können grundsätzlich wie Gesunde Sport treiben. Da Glukose in der Skelettmuskulatur insulinunabhängig verstoffwechselt wird, wird die BZ-Konzentration im Rahmen der körperlichen Betätigung sinken. Das Ausmaß des BZ-Abfalls korreliert mit dem Ausmaß der körperlichen Betätigung.
Bei normalen BZ-Ausgangswerten ist es zweckmäßig, vor Beginn der sportlichen Betätigung oder der körperlichen Belastung die Insulindosierung zu reduzieren oder zusätzlich rasch resorbierbare Kohlenhydrate zu sich zu nehmen.
Zur näherungsweisen Abschätzung gilt die Faustregel in ◘ Tab. 16.11.
Tab. 16.11.
Maßnahmen vor und nach körperlicher Belastung
Belastungsart | Insulingabe |
---|---|
1 Stunde halbmaximale Belastung | – Kurz wirksames Insulin um 3 IE reduzieren oder – Nahrung mit 30–40 g Kohlenhydraten zusätzlich essen |
Ausdauerbelastung mit 30 % der maximalen Leistungsfähigkeit | – Kurz wirksames Insulin um 2 IE/h Belastung reduzieren oder – Nahrung mit 20–30 g Kohlenhydrate zusätzlich essen |
Nach Ausdauerbelastung | – 20–30 g langsam resorbierbare Kohlenhydrate abends zusätzlich plus – nächtliche BZ-Kontrollen |
Auf die klinischen Zeichen einer Hypoglykämie ist zu achten! |
Bei BZ-Werten >250 mg/dl ist bei der Ausübung körperlicher Belastung mit schweren Stoffwechselentgleisungen zu rechnen. Vor Beginn sollte der BZ-Wert auf <250 mg/dl abgesenkt werden.
16.2.2 Diabetes mellitus Typ II
Auch wenn Patienten mit Typ-II-Diabetes häufig asymptomatisch sind, so ist doch einen konsequente Behandlung mit dem Ziel einer Primärprophylaxe diabetischer Spätkomplikationen indiziert. Patienten mit Typ-II-Diabetes sprechen zunächst (i. d. R. viele Jahre) gut auf solche Medikamente an, die die Insulinsekretion der ß-Zellen des Pankreas stimulieren (sog. ß-zytotrope Antidiabetika). Erst wenn – nach meist jahrelangem Verlauf – die Insulinsekretion der ß-Zellen nachlässt, kann eine Insulintherapie erforderlich werden.
Klinisch ist der Verlauf häufig über viele Jahre asymptomatisch, und der Nachweis einer signifikanten Blutzuckererhöhung ist ein Zufallsbefund bei meist adipösen Patienten. Es besteht keine oder nur eine geringe Neigung zur Ketoazidose. Der Zuckerstoffwechsel ist i. d. R. stabil; Dekompensationen sind jedoch im Rahmen von Stress, Infektionen, Traumata, Operationen etc. möglich.
16.2.2.1 Therapie des Typ-II-Diabetikers
Grundpfeiler der Therapie sind
Optimierung des Körpergewichts,
diätetische Führung und
medikamentöse Maßnahmen (orale Antidiabetika).
Eine Insulintherapie steht bei Typ-II-Diabetikern erst am Ende der therapeutischen Eskalation.
16.2.2.2 Ernährung
Es gelten die allgemeinen Grundsätze für eine gesunde Ernährung: Anpassung der Kalorienzufuhr an den Kalorienbedarf, erforderlichenfalls Reduktionskost, viele Ballaststoffe, Alkohol allenfalls in Maßen. Sog. Diabetikerlebensmittel sind regelmäßig nicht hilfreich (zur Ernährung s.a. w Abschn. 16.2.1).
16.2.2.3 Orale Antidiabetika
Nachdem die Glitazone und Glinide nur noch für sehr eingeschränkte Indikationen zur Verfügung stehen, sind (derzeit) noch drei Gruppen oraler Antidiabetika verfügbar.
α-Glukosidase-Inhibitoren (Acarbose, Miglitol)
Ihre antidiabetische Wirkung beruht auf der Verlangsamung des Abbaus von Di- und Polysacchariden im Bürstensaum des Dünndarms. Dadurch wird die Absorption von Glukose verzögert und der Blutzuckerverlauf „geglättet“. Typische Nebenwirkungen sind Blähungen und Durchfallneigung.
Biguanide (Metformin)
Die antidiabetische Wirkung des Metformin beruht auf der Suppression der hepatischen Glukoseproduktion und der Erhöhung der Insulinaufnahme in peripheren Geweben. An Nebenwirkungen können Übelkeit und Anorexie auftreten.
Eine gefährliche Nebenwirkung ist die Ausbildung einer Laktatazidose, vor allem, wenn die Kontraindikationen für Biguanide nicht beachtet werden.
Kontraindikationen sind
eine Niereninsuffizienz mit einem Serumkreatinin >1,5 mg/dl bei Männern und >1,4 mg/dl bei Frauen,
schwere Leber-, Herz- und Lungenerkrankungen sowie
erhöhter Alkoholkonsum.
Ältere Menschen sollten Metformin nur mit größter Vorsicht und niedrig dosiert erhalten!
Metformin muss pausiert werden bei Maßnahmen, die ihrerseits ein Nierenversagen auslösen können (wie z. B. die Kontrastmittelgabe im Rahmen von Röntgenuntersuchungen).
Sulfonyharnstoffe
Sulfonyharnstoffe steigern die Insulinsekretion durch Stimulation der ß-Zellen.
16.2.2.4 Praktische Durchführung im Rahmen der neurologischen Frührehabilitation
Die medikamentöse Behandlung des Typ-II-Diabetikers erfolgt typischerweise nach dem Stufenplan in ◘ Tab. 16.12.
Tab. 16.12.
Stufenplan zur Therapie des Typ-II-Diabetikers
Stufe | Maßnahmen |
---|---|
1. Stufe | Gewichtsabnahme, regelmäßige körperliche Bewegung |
2. Stufe | – Bei Normalgewicht: Sulfonylharnstoff in Monotherapie – Bei Übergewicht und fehlenden Kontraindikationen gegen Metformin: Metforminmonotherapie – Bei Übergewicht und Kontraindikationen gegen Metformin: Sulfonylharnstoff in Monotherapie |
3. Stufe | – Bei vorheriger Metformintherapie: zusätzlich Acarbose oder Sulfonylharnstoff – Bei vorheriger Sulfonylharnstofftherapie: zusätzlich Metformin (Kontraindikationen beachten!) |
4. Stufe | Zusätzliche Gabe eines Bedtime-Verzögerungsinsulins |
Eskalation zur nächsten Stufe, wenn trotz konsequenter Therapie HbA1c >7 % bleibt |
16.2.2.5 Besondere Aspekte im Rahmen der neurologischen Frührehabilitation
Patienten mit Typ-II-Diabetes können grundsätzlich wie Gesunde Sport treiben. Da Glukose in der Skelettmuskulatur insulinunabhängig verstoffwechselt wird, wird die BZ-Konzentration im Rahmen der körperlichen Betätigung sinken. Das Ausmaß des BZ-Abfalls korreliert mit dem Ausmaß der körperlichen Betätigung. Vor, ggf. während und nach sportlicher Betätigung sollten BZ-Kontrollen erfolgen, um ein evtl. Abgleiten in eine hypoglykämische Phase zumindest rechtzeitig zu erkennen, besser noch, diesem rechtzeitig gegensteuern zu können (▶ Abschn. 16.2.4).
16.2.3 Pankreopriver Diabetes mellitus
Ein pankreopriver Diabetes tritt z. B. nach Pankreatektomie auf. Die Therapie entspricht, weil auch hier ein absoluter Insulinmangel vorliegt, grundsätzlich dem des Typ-I-Diabetes. Allerdings ist die Stoffwechselsituation i. d. R. stabiler und die Komplikationshäufigkeit geringer. Da häufig gleichzeitig eine exokrine Pankreasinsuffizienz besteht, muss auch diese ausreichend substitutiv behandelt werden, damit nicht zusätzlich BZ-Schwankungen durch intestinale Resorptionsstörungen hervorgerufen werden.
16.2.4 Diabetische Notfälle
16.2.4.1 Ketoazidose und Coma diabeticum
Beide Fälle sind Ausdruck eines ausgeprägten Insulinmangels. Der Übergang von der Ketoazidose in ein Coma diabeticum ist abhängig vom Ausmaß des Anstiegs der Hyperosmolalität (Dehydratation).
Klinische Zeichen sind
Dehydratation/Exsikkose,
initial Polyurie,
später Oligurie/Anurie,
Elektrolytverlust,
gerötete Haut,
Azetongeruch,
Kußmaul-Atmung,
neurologische Ausfälle, Bewusstseinstrübung, Koma.
16.2.4.2 Therapie
Behandlung nach intensivmedizinischen Kriterien (s. dort) mit Flüssigkeitsersatz, Elektrolytersatz und Insulinsubstitution mit dem Ziel einer langsamen (!) Normalisierung des Stoffwechsels über etwa 48 Stunden (sonst Gefahr eines Disäquilibriums).
16.2.4.3 Hyperosmolares Coma diabeticum
Dieses nicht-ketoazidotische Coma diabeticum tritt meist bei alten Menschen mit Typ-II-Diabetes auf und ist durch extreme Hyperglykämie, Hypernatriämie und Dehydratation gekennzeichnet. Im Vordergrund der (intensivmedizinischen) Therapie steht die Rehydratation. Eine Insulinsubstitution ist allenfalls in sehr geringer Dosis erforderlich.
16.2.4.4 Hypoglykämie
Hypoglykämische Symptome treten auf bei BZ <50 mg/dl oder raschem BZ-Abfall (z. B. durch Insulinüberdosierung oder starke körperliche Arbeit, Sport, nicht ausreichende Nahrungszufuhr).
Die meisten klinischen Zeichen sind durch die adrenerge Gegenreaktion ausgelöst:
Schweißausbruch,
Tachykardie,
Ängstlichkeit,
Hunger,
Reizbarkeit,
Doppelbilder/andere Sehstörungen,
Kopfschmerzen,
Bewusstseinsstörung,
Bewusstlosigkeit,
epileptische Anfälle.
16.2.4.5 Therapie
Die Erstmaßnahmen bei Hypoglykämie können sich nach dem Schema in ◘ Tab. 16.13 richten. Die Maßnahmen sind schon bei begründetem Verdacht auf Hypoglykämie angezeigt und dürfen nicht bis zum Eintreffen eines BZ-Werts verzögert werden. Nach Möglichkeit sollte jedoch vor Gabe von Glukose eine Blutabnahme zur BZ-Bestimmung erfolgt sein.
Tab. 16.13.
Erstmaßnahmen bei Hypoglykämie
Bewusstseinszustand | Aktueller BZ | Maßnahme |
---|---|---|
Reaktion auf Ansprache adäquat, Schutzreflexe erhalten | 50–60 mg/dl | 200 ml Fruchtsaft |
<50 mg/dl | 30 g Glukose p.o. | |
Bewusstlos | 100–200 ml Glukose 20 % langsam i.v., dann intensivmedizinische Weiterbehandlung | |
Kurzfristige BZ-Kontrollen sind erforderlich! |
16.3 Arterielle Hypertonie
16.3.1 Arterielle Hypertonieformen und Differenzialdiagnosen
Für die meisten Patienten mit arterieller Hypertonie (ca. 95 %) gilt, dass eine Ursache nicht gefasst werden kann (essentielle arterielle Hypertonie ). Nur bei ca. 5 % der Hypertoniepatienten ist eine Ursache eruierbar (sekundäre arterielle Hypertonie). Als Ursachen einer sekundären arteriellen Hypertonie kommen infrage:
Nierenerkrankungen (renovaskulär oder renoparenchymatös bedingte arterielle Hypertonie),
endokrine Erkrankungen (Phäochromozytom, Hyperaldosteronismus, Cushing-Syndrom, Hyperthyreose, primärer Hyperparathyreoidismus),
Aortenisthmusstenose,
obstruktives Schlafapnoe-Syndrom.
Einige dieser Erkrankungen können über eine gezielte Erfragung typischer Symptome vermutet werden, andere werden im Rahmen der sog. klinischen und/oder laborchemischen Routineuntersuchungen vermutet oder entdeckt. Dies zieht dann entsprechende ergänzende differenzialdiagnostische Untersuchungen nach sich, für z. B.
eine Aortenisthmusstenose (signifikante RR-Differenz zwischen Armen und Beinen),
Schilddrüsenfunktionsstörungen (TSH-Bestimmung und/oder Bestimmung der peripheren Schilddrüsenhormone im Routinelabor),
ein Schlafapnoe-Syndrom (eigen-, v. a. aber fremdanamnestische Hinweise),
andere endokrine Störungen (durch Abweichungen in der Serumelektrolytkonstellation).
Insbesondere die renale arterielle Hypertonie aber, die die häufigste Ursache einer sekundären arteriellen Hypertonie ist, macht sich nur selten „von sich aus“ bemerkbar. Zwar steht mit der verfeinerten Ultraschalldiagnostik eine nicht-invasive Möglichkeit der Darstellung des renalen Blutflusses zur Verfügung. Die einem pathologischen Befund möglicherweise folgende weitere Klärung ist jedoch invasiv, und die Behebung einer dann nachgewiesenen Stenose ist keineswegs regelmäßig mit einer befriedigenden Blutdrucksenkung verbunden. Aus diesem Grund wird die Klärung, ob eine Nierenarterienstenose als Ursache einer arteriellen Hypertonie vorliegt, in der Regel nur dann vorgenommen, wenn
eine arterielle Hypertonie vor dem 30. Lebensjahr oder
eine schwer einstellbare arterielle Hypertonie nach dem 55. Lebensjahr,
eine akute Verschlechterung der Nierenfunktion nach Einnahme eines ACE-Hemmers oder eines Angiotensinrezeptorblockers oder
ein hypertensives Lungenödem
plötzlich und sonst nicht erklärbar aufgetreten sind.
16.3.2 Bedeutung der arteriellen Hypertonie
Sowohl der diastolische als auch der systolische Blutdruck sind Risikofaktoren für Schlaganfall und Herzinfarkt. Dabei steigt das Risiko kontinuierlich und proportional mit der Höhe der Blutdruckwerte an. Aus praktischen Gründen gelten zwar weiterhin Schwellenwerte für die Indikation zur Behandlung. Aber ein hoch normaler Blutdruck ist bei Patienten mit weiteren Gefäßrisikofaktoren bereits als (behandlungsbedürftige) Hypertonie zu werten, während derselbe Wert bei Patienten mit niedrigem Risikoprofil noch ohne Behandlung akzeptiert werden kann. Additive Risiken sind
Alter (Männer >55 Jahre, Frauen >65 Jahre),
Rauchen,
Fettstoffwechselstörung,
Diabetes mellitus,
Bauchfettleibigkeit,
positive Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen (bei männlichen Angehörigen <55 Jahre, bei weiblichen Angehörigen <65 Jahre).
16.3.3 Definition
In ◘ Tab. 16.14 sind die geltenden Blutdruckwerte zur Klassifikation des Schweregrads einer arteriellen Hypertonie aufgeführt.
Tab. 16.14.
Klassifizierung des Schweregrads einer arteriellen Hypertonie (Ruheblutdruckwerte)
Schweregrad | Systolischer Wert [mmHg] | Diastolischer Wert [mmHg] |
---|---|---|
Optimal | <120 | <80 |
Normal | 120–129 | 80–84 |
Hoch normal | 130–139 | 85–95 |
Leichte Hypertonie (Grad 1) | 140–159 | 90–99 |
Mittelschwere Hypertonie (Grad 2) | 160–179 | 100–109 |
Schwere Hypertonie (Grad 3) | ≥180 | ≥110 |
Isolierte systolische Hypertonie | >139 | <90 |
Zur Klassifizierung wird der jeweils ungünstigste Wert herangezogen |
16.3.4 Klinik
Klinisch zeigen sich folgende Beschwerdebilder:
Bei einer essentiellen arteriellen Hypertonie sind die Patienten meist und lange Zeit beschwerdefrei oder zeigen nur unspezifische Symptome wie Nasenbluten, Kopfschmerzen oder ungerichteten Schwindel.
Bei einer sekundären arteriellen Hypertonie haben die Patienten gelegentlich Symptome, die auf die Grunderkrankung zurückzuführen sind.
16.3.5 Therapie
Ziel der Behandlung ist die maximale Senkung des kardiovaskulären Risikos. Je höher das kardiovaskuläre Risiko ist, desto rascher sollten die Zielwerte erreicht werden. Bei älteren Patienten muss die Blutdrucksenkung in den Zielbereich grundsätzlich langsam erfolgen (◘ Tab. 16.15).
Tab. 16.15.
Zielwerte für die Blutdruckeinstellung in Abhängigkeit von der Komorbidität
Komorbidität | RR-Zielwerte [mmHg] |
---|---|
Diabetes mellitus | <130–140/80–85 |
Stark oder sehr stark erhöhtes kardiovaskuläres Risiko | <130/80 |
Niereninsuffizienz ohne Proteinurie >1 g/Tag | <130/80 |
Niereninsuffizienz mit Proteinurie >1 g/Tag | <125/75 |
Zerebrovaskuläre Erkrankungen in der Anamnese | <130/80 |
Alter (biologisches Alter >80 Jahre) | <150/80 |
Alle anderen Konstellationen | <140/90 |
16.3.5.1 Indikation zur Behandlung
Indikation und Strategie der Therapie werden in Abhängigkeit vom kardiovaskulären Gesamtrisiko gestellt. Dieses Gesamtrisiko ergibt sich aus der Höhe des Blutdrucks einerseits (Klassifikation, ◘ Tab. 16.14) und evtl. weiterer vorhandener Gefäßrisikofaktoren (insbesondere Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus) andererseits (◘ Tab. 16.16).
Tab. 16.16.
Ausmaß der Erhöhung des kardiovaskulären Gesamtrisikos in Abhängigkeit von Schweregrad der arteriellen Hypertonie und additiven Risikofaktoren
Anzahl weiterer Risikofaktoren | RR normal | RR hoch normal | Hypertonie Grad 1 | Hypertonie Grad 2 | Hypertonie Grad 3 |
---|---|---|---|---|---|
0 | 0 | 0 | ↑ | ↑↑ | ↑↑↑ |
1–2 | ↑ | ↑ | ↑↑ | ↑↑ | ↑↑↑↑ |
3 oder Endorganschaden, Diabetes mellitus oder metabolisches Syndrom | ↑↑ | ↑↑↑ | ↑↑↑ | ↑↑↑ | ↑↑↑↑ |
Manifeste kardiovaskuläre Erkrankung | ↑↑↑↑ | ↑↑↑↑ | ↑↑↑↑ | ↑↑↑↑ | ↑↑↑↑ |
0 nicht erhöht; ↑ leicht erhöht; ↑↑ mäßig erhöht; ↑↑↑ stark erhöht; ↑↑↑↑ sehr stark erhöht |
Je nach Höhe des Blutdrucks und Ausmaß einer evtl. zusätzlichen Erhöhung des kardiovaskulären Risikos (◘ Tab. 16.16) lassen sich verschiedene antihypertensive Behandlungsstrategien anwenden (◘ Tab. 16.17):
Tab. 16.17.
Antihypertensive Behandlungsstrategie in Abhängigkeit von der Höhe des Blutdrucks und dem Ausmaß einer evtl. zusätzlichen Erhöhung des kardiovaskulären Risikos
Erhöhung des Risikos durch Komorbidität | RR hoch normal | Hypertonie Grad 1 | Hypertonie Grad 2 | Hypertonie Grad 3 |
---|---|---|---|---|
Strategie | ||||
↑ (leicht) | A | B | C | D |
↑↑ (mäßig) | A | C | C | D |
↑↑↑ (stark) | A | D | D | D |
↑↑↑↑ (sehr stark) | D | D | D | D |
Strategie A: Veränderung der Lebensweise (Lifestyle).
Strategie B: Veränderung der Lebensweise für einige Monate; bei fehlendem Effekt zusätzlich Antihypertensiva.
Strategie C: Veränderung der Lebensweise für einige Wochen; bei fehlendem Effekt zusätzlich Antihypertensiva.
Strategie D: Veränderung der Lebensweise und sofortiger Einsatz von Antihypertensiva. Veränderung der Lebensweise bedeutet: Nikotinabstinenz, Gewichtsreduktion, Reduktion des Alkoholkonsums, körperliche Bewegung/Sport, Reduktion des Kochsalzgebrauchs, viel Obst und Gemüse, wenig tierische und wenig gesättigte Fette.
16.3.5.2 Medikamente/Substanzklassen zur antihypertensive Therapie
Es gibt eine Fülle von Subtanzklassen und Substanzen. Aus den teilweise unterschiedlichen Wirkprofilen ergeben sich differenzialtherapeutische Überlegungen. Die in ◘ Tab. 16.18 aufgelisteten Medikamente sind 1. Wahl. Für ausgewählte Situationen stehen ergänzend Antisympathikotonika zur Verfügung.
Tab. 16.18.
Differenzialindikationen von Antihypertensiva
Gruppe | Vorteilhaft bei | Nachteilig bei |
---|---|---|
Thiaziddiuretika | Herzinsuffizienz | – Hypokaliämie – Hyperurikämie – Diabetes mellitus – Metabolisches Syndrom |
ß-Blocker | – Koronare Herzkrankheit – Herzinsuffizienz – Herzrhythmusstörungen | – Asthma bronchiale – AV-Blockierungen II–III – Diabetes mellitus – Metabolisches Syndrom |
Ca-Antagonisten | Stabile Angina pectoris | – AV-Blockierungen – Ödeme (gilt für solche vom Nifedipintyp) – Instabile Angina pectoris – Akuter Herzinfarkt inerhalb der letzten 4 Wochen |
ACE-Inhibitoren | – Herzinsuffizienz – Z.n. Herzinfarkt – Diabetische Nephropathie | – Schwangerschaft – Hyperkaliämie – Bds. Nierenarterienstenose |
AT1-Antagonisten | – Herzinsuffizienz – Z.n. Herzinfarkt – Diabetische Nephropathie – ACE-Hemmer-Unverträglichkeit | – Schwangerschaft – Hyperkaliämie – Bds. Nierenarterienstenose |
16.3.5.3 Mono- oder Kombinationstherapie
Bei Patienten mit leichter arterieller Hypertonie und leichtem oder nur mäßig erhöhtem kardiovaskulären Risiko kann der Versuch einer Monotherapie unternommen werden. Bei allen anderen Patienten wird eine Zwei- oder Dreifachkombination erforderlich sein. Die Auswahl der Kombinationspartner erfolgt nach den o. g. Hinweisen zu den unterschiedlichen Wirkprofilen (◘ Tab. 16.18).
Sinnvolle Kombinationen können sein:
Diuretikum + ACE-Hemmer + Ca-Antagonist,
Diuretikum + AT1-Antagonist + Ca-Antagonist,
Diuretikum + ß-Blocker + Vasodilatator,
Diuretikum + zentrales Antisympathikotonikum + Vasodilatator (z. B. Ca-Antagonisten, ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, α-1-Blocker, Dihydralazin, Antisympthikotonika wie z. B. Clonidin).
16.3.5.4 Ergänzende Aspekte bei besonderen Patientengruppen
16.3.5.5 Ältere und alte Patienten
Beginn der Therapie mit einem Medikament der 1. Wahl (s. o.); niedrige Initialdosis.
RR-Kontrollen wegen Orthostaseneigung alter Menschen immer auch im Stehen.
Bei >80 Jahren: Ziel-RR <150/80 mmHg.
16.3.5.6 Patienten mit Diabetes mellitus Typ II
Ziel-RR: <130/80 mmHg.
ACE-Hemmer und AT1-Antagonisten bevorzugen, insbesondere bei Nephropathie (unter Kontrolle der Nierenretentionswerte; ein Kreatininanstieg bis 4 mg/dl ist tolerabel).
Wegen der möglichen diabetischen Neuropathie besteht Orthostaseneigung; deshalb RR-Werte immer auch im Stehen kontrollieren.
16.3.5.7 Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen
Bei zerebrovaskulären Erkrankungen in der Vorgeschichte: Ziel-RR <130/80 mmHg. Diese Empfehlung gilt ausdrücklich nicht für die akute Phase eines Schlaganfalls!
16.3.5.8 Patienten mit koronarer Herzkrankheit und Herzinsuffizienz
Günstig sind ß-Blocker, ACE-Hemmer und AT1-Antagonisten. Bei Herzinsuffizienz wird als Vormedikation häufig bereits ein Schleifendiuretikum und/oder einen Aldosteronantagonisten eingesetzt worden sein.
16.3.5.9 Schwangerschaft
Bei RR-Werten <160/100 mmHg: nicht-medikamentöse Maßnahmen (s. o.), insbesondere auch Einschränkung der körperlichen Aktivität.
Bei vorbestehender arterieller Hypertonie, renaler Hypertonie, Diabetes mellitus: antihypertensive Therapie bei RR-Werten >170 mmHg syst. oder >110 mmHg diast.
Bei RR-Werten syst. >170 mmHg oder diast. >110 mmHg notfallmäßige stationäre Behandlung. Zur Notfalltherapie geeignet sind Nifedipin p.o. oder Urapidil i.v.
In der Schwangerschaft zur Dauertherapie geeignete Medikamente sind a-Methyl-Dopa, ß-Blocker (Metoprolol) und Ca-Antagonisten. Ziel-RR: 140–160/90–100 mmHg.Stay updated, free articles. Join our Telegram channel
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