Therapie von kognitiven und Verhaltensstörungen in der Frührehabilitation



Abb. 6.1.
Initialberührung



Initialberührung

Der Patient soll durch eine absichtsvolle und eindeutig spürbare Initialberührung sowie das Mit-seinem-Namen-Ansprechen auf den Kontakt vorbereitet werden, damit er nicht überrascht und irritiert wird und keine Ängste entwickelt. Durch eine verabschiedende Berührung an der gleichen Körperstelle wird der Behandlung ein Ende gesetzt (◘ Abb. 6.1). Somit erfährt der Patient durch die Berührung den eindeutigen Beginn und das Ende der Behandlung (Nydahl 2007).

Die Therapie durch die Pflegeperson wird fortgeführt, indem im Bett Bewegungsübergänge von der rechten zur linken Seite durch Rotationen des Kopfes geübt werden. Herr B. wird auf die Seite positioniert und über die linke Körperseite an die Bettkante mobilisiert (vestibuläre Stimulation; ◘ Abb. 6.2). Es wird darauf geachtet, dass Herr B. mit seinen Füßen Bodenkontakt hat. Durch Heben und Senken der Füße und damit dem Lösen des Bodenkontakts soll der Patient seine Körpergrenzen spüren und auf die Vertikalisierung im Stand vorbereitet werden. Über die Stabilisation der Füße wird Herr B. in den Stand mobilisiert und seine linke, mehr betroffene Körperseite unterstützt.

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Abb. 6.2
a, b. Bewegungsübergänge im Bett. a Bewegungseinleitung: Drehen von Rückenlage in Seitlage links. b Unterstützung während des Drehens

Vestibuläre Stimulation

Durch das Vestibulärsystem erhalten Menschen Informationen über die Lage im Raum, es sichert das Gleichgewicht und koordiniert das Sehen. Stark reduzierte Bewegung führt zu einer Unterstimulation des Vestibulärsystems und damit zu Einschränkungen der Aufmerksamkeit, des aktiven Sehens und der räumlichen Orientierung. Vestibuläre Stimulationen sind somit notwendig zur Orientierung. Bereits durch kleinste Veränderungen können Effekte erreicht werden (Bienstein u. Fröhlich 2010).

Nach dem Stehtraining wird Herr B. wieder zurück ins Bett mobilisiert und in eine umgrenzende Position gebracht: Zwei zusammengerollte Bettdecken werden unter den Kopf und an die rechte und linke Seite des Patienten gelegt. Die Arme liegen seitlich neben dem Körper auf den Decken. Um die Körpergrenzen der Füße bewusst zu machen, wird eine Lagerungsrolle unter die Füße gelegt.



6.5.2.7 Erfahrungen und Wirkungen


Es wurde beobachtet, dass Herr B. direkt nach den Interventionen eine Herzfrequenz von 80 Schlägen/min zeigte, die sich weiter bis auf 56 Schläge/min absenkte. Herr B. wirkte deutlich entspannter, sein linkes Bein hatte einen normalen Tonus. Etwa 2 Stunden nach diesen Interventionen waren Herzfrequenz und Muskeltonus wieder angestiegen und hatten den Stand wie vor den Interventionen erreicht.


6.5.2.8 Basale Stimulation – ein evidenzbasiertes Konzept?


Nach all den klinischen Erfahrungen und Beobachtungen, die hinsichtlich der Umsetzung dieses Stimulationskonzepts gemacht wurden, stellt sich die Frage, ob das Konzept evidenzbasiert ist? Es gibt zum einen einige Studien aus anderen Bezugswissenschaften, zum anderen Studien aus dem Bereich der Pflege, in dem einzelne Stimulationsaspekte eingesetzt wurden, die aber letztendlich die Wirksamkeit der basalen Stimulation nicht nachweisen können. Weitere Studien sind notwendig, um das Konzept der basalen Stimulation wissenschaftlich untermauern zu können. Nach der Publikation von Bienstein und Fröhlich (2010) hat das Interesse der pflegerischen Praxis an einer wissenschaftlichen Fundierung des Konzepts deutlich zugenommen.




6.6 Therapieansätze in der Ergotherapie


In der neurologischen Frührehabilitation ist das Spektrum der bewusstseinsgestörten Rehabilitanden sehr groß. Es reicht von schwersten Bewusstseinsstörungen wie z. B. komatösen Rehabilitanden bis hin zu Rehabilitanden mit leichtgradigen Bewusstseinsstörungen, bei denen eine grundlegende Interaktionsfähigkeit und rudimentäre Fähigkeiten zur Mitarbeit vorliegen. Das ergotherapeutische Behandlungskonzept bezieht sich somit



  • einerseits auf die Behandlung von Rehabilitanden mit schweren Bewusstseinsstörungen (Koma, Wachkoma, akinetischer Mutismus, stuporartiger Antriebsstörung),


  • andererseits auf die Behandlung von leichtgradigen Bewusstseinsstörungen, die aber mit neuropsychologischen Störungsbildern (▶ Übersicht 6.2) als Folge einer zerebralen Läsion assoziiert sind.

In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass nicht nur neuro-kognitive Interventionen, die unmittelbar auf die Funktionsstörungen eingehen, wichtig sind, sondern auch Interventionen, die die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person zur Ausführung von Aktivitäten verbessern (Hoffmann et al. 2010a). Der ergotherapeutische neuro-kognitive Behandlungsansatz beinhaltet die Kombination beider Interventionen.


Übersicht 6.2. Ergotherapie bei neuropsychologischen Störungsbildern





  • Therapie visueller Wahrnehmungsstörungen:



    • homonyme Gesichtsfeldstörungen


    • Störungen des visuellen Erkennens: visuelle Agnosien


  • Therapie von Störungen räumlicher Leistungen:



    • Unterteilung: räumlich-visuelle, räumlich-konstruktive und räumlich-topographische Leistungen


  • Therapie des unilateralen Neglects:



    • Unterteilung: visuell, somatosensibel, motorisch, akustisch


  • Therapie von Störungen des Gedächtnisses und der Informationsverarbeitung:



    • zeitliche Unterteilung: Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Altgedächtnis, prospektives Gedächtnis


    • inhaltliche Unterteilung: sprachliche und nicht-sprachliche Gedächtnisinhalte, explizites und implizites Gedächtnis


  • Therapie von Störungen der Aufmerksamkeit


  • Therapie von Störungen des Handelns:



    • Unterteilung: exekutive Funktionen


    • Unterteilung: ideatorische Apraxie, ideomotorische Apraxie, bukkofaziale Apraxie


  • Therapie der fehlenden Krankheitseinsicht (Anosognosie, Unawareness):



    • Unterteilung: globale Unawareness, informelle Awareness, auftauchende Awareness, vorausschauende Awareness

Der Ansatz der kognitiven Ergotherapie bezieht sich auf



  • Rehabilitanden mit leichtgradigen Bewusstseinsstörungen und


  • Rehabilitanden, die keine leicht- bis mittelgradigen neurokognitiven Defizite haben.

Ziel ist es, den Ausprägungsgrad neuropsychologischer Störungen möglichst frühzeitig einzuschätzen, um darauf basierend gezielt Interventionen zu planen und eine vorsichtige Prognose über die Auswirkungen der neurokognitiven Funktionsstörungen auf den Alltag zu geben. Die Voraussetzungen hierfür sind



  • ein ausreichendes Sprachvermögen für die verbale Kommunikation,


  • ein rudimentäres Instruktions- und Aufgabenverständnis und


  • eine kognitive und physische Belastungsfähigkeit für wenige Minuten.

Schwerpunktmäßig konzentriert sich die Ergotherapie auf die Diagnostik kognitiver Störungen, in Kooperation mit der Neuropsychologie (Götze u. Zenz 2010), und auf die sich anschließende alltagsorientierte Therapie. Die testpsychologische Befunderhebung der Neuropsychologie, soweit diese aufgrund des Schweregrads der Patienten in der Frührehabilitation überhaupt einsetzbar ist, wird durch gezielte Beobachtungen des Rehabilitanden im Stationsalltag ergänzt.


6.6.1 Ergotherapeutische Interventionen bei wahrnehmungsgestörten Rehabilitanden mit schwersten Bewusstseinsstörungen


Für die Therapie zur Wahrnehmungsförderung von Rehabilitanden mit schwersten Bewusstseinstörungen werden Prinzipien wie



  • multisensorische Stimulation,


  • elementarer Dialogaufbau,


  • Affolter-Konzept (Arts 2002),


  • Integration von Elementen der basalen Stimulation (Mohr 2010) und der Kinästhetik (Ströbert 2011)

gewählt und kombiniert angewendet.


6.6.1.1 Konzept der multisensorischen Stimulation (MSS)


Das Konzept der multisensorischen Stimulation (MSS) geht davon aus, durch intensive und wiederholte Reizstimulation eine erhöhte Aufmerksamkeit für die angesprochenen Sinneskanäle und damit eine selektive und gezielte Zuwendung zum Reiz hin zu erreichen. Dabei werden dosiert orofaziale, akustische, visuelle, gustatorische, olfaktorische, taktile und kinästhetische Reize appliziert. Nicht nur die Reizaufnahme und -verarbeitung, sondern auch eine reproduzierbare, spezifische motorische oder sprachliche Reaktion bzw. Handlung stehen im Vordergrund. Eine stimulative Schwerpunktsetzung ergibt sich dann, wenn der Rehabilitand auf eine spezifische Reizstimulation stärker reagiert als auf andere. Durch externe multisensorische Anregungen soll



  • die Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsfähigkeit der betroffenen Person unterstützt,


  • die Bewusstseinslage (Arousal) positiv beeinflusst und


  • eine Habituation an eine stets gleiche, reizarme Umgebung vermieden werden (Heidler 2008).


6.6.1.2 Evidenz: Multisensorische Stimulationsverfahren


Es liegen Evidenznachweise für multisensorische Stimulationsverfahren (MSS-Verfahren) bei Rehabilitanden mit schwersten Bewusstseinsbeeinträchtigungen vor, wenngleich das Ausmaß der Langzeiteffekte noch nicht hinreichend geklärt ist. In mehreren Studien konnten keine signifikanten Effekte von MSS auf den Bewusstseinsgrad nachgewiesen werden. Zumindest Kurzzeiteffekte im Sinne eines erhöhten Arousals während und kurz nach den Stimulationen wurden beobachtet, so dass von einem geringen Evidenzgrad ausgegangen werden kann (Heidler 2008).


6.6.1.3 Elementarer Dialogaufbau


Der elementare Dialogaufbau zielt auf die Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit im Sinne einer körpernahen Interaktion und der grundlegenden nonverbalen oder verbalen Kommunikation ab. In Ergänzung zur sensorischen Stimulation wird gezielt das Gespräch als interaktionelles Element mit dem Rehabilitanden gesucht und gefördert. Bei einem Rehabilitanden mit einer mittelgradigen Bewusstseinsstörung kann z. B. in den Wachphasen durch zeitliche und örtliche Angaben eine erste Orientierung gefördert werden oder Angaben zu dessen biographischem Hintergrund als Ansatz der Re-Orientierung aufgegriffen werden.

Generell sollten die o. g. therapeutischen Interventionen mehrfach am Tag mit unterschiedlicher Zeitdauer von den Fachdisziplinen der Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Heilpädagogik und der Pflege durchgeführt werden. Alle Fachbereiche kommunizieren ihre Beobachtungen und passen ihre Behandlungsstrategien den Reaktionen des Rehabilitanden an.


6.6.2 Behandlungsschwerpunkte der kognitiven Ergotherapie bei mittel- bis leichtgradigen Bewusstseinsstörungen


Kognitive Funktionsstörungen infolge einer zerebralen Läsion haben einen entscheidenden Einfluss auf die Handlungsfähigkeit im Alltag. Sie können die Ausführung von Aktivitäten des täglichen Lebens erheblich beeinträchtigen (Patel et al. 2003), den Rehabilitationsverlauf sowie auch das rehabilitative Outcome negativ beeinflussen. Die Komplexität der Störungen, die sich sowohl auf der Körperfunktions- als auch auf der Aktivitätsebene auswirken, erfordert ein multidisziplinäres Behandlungskonzept.

Der ergotherapeutische Schwerpunkt zielt auf die Diagnostik und Therapie neuropsychologischer Störungen ab.


6.6.2.1 Diagnostik


Für die Diagnostik werden verwendet:



  • Explorationsgespräche,


  • Eigen- und Fremdanamnese des Rehabilitanden,


  • Verhaltensbeobachtungen und


  • ein Befundsystem als Informationsquelle.

Für ausführliche Testmaterialien zur alltagsorientierten Befunderhebung (Tests, Fragebögen zur Selbst- und Fremdeinschätzung) wird auf die Literatur zu ergotherapeutischen Messinstrumenten (Götze et al. 2010) verwiesen. Bei den üblicherweise in der Neuropsychologie angewendeten Testbatterien ist zu berücksichtigen, dass diese die tatsächliche Leistungseinschränkung des Rehabilitanden im Alltag häufig nur unzureichend abbilden, und dass das Durchführen der Tests bei Rehabilitanden in Phase B meist nur eingeschränkt möglich ist. Deswegen ist der ergotherapeutische Ansatz der gezielten Beobachtung des Rehabilitanden unter Alltagsbedingungen hilfreich, um Hinweise über bestehende Probleme und Fähigkeiten zu erhalten, sie mit den neuropsychologischen Befunden aus orientierenden Testuntersuchungen zu vergleichen und in ein interdisziplinäres Behandlungskonzept zu integrieren.


6.6.2.2 Therapie


In ▶ Übersicht 6.3 sind allgemeine Therapieansätze aufgelistet.


Übersicht 6.3. Allgemeine Therapieansätze





  • Restitutionstherapie, Funktionstherapie, kognitiv-übende Verfahren


  • Kompensationstraining durch Nutzung (noch) vorhandener Funktionen


  • Kompensation durch externe Hilfsmittel bei unzureichenden residualen Funktionen


  • Adaption bzw. Veränderungen der Umwelt


  • Verhaltensorientierter Ansatz


  • Psychosoziale Unterstützung des Betroffenen und der Angehörigen


  • Alltags- und handlungsorientierte Verfahren

Für eine effiziente Therapie reichen nur auf die Funktionsebene ausgerichtete Ansätze nicht aus. Die spezifischen Alltagsanforderungen, mit denen der Rehabilitand täglich konfrontiert ist, erfordern eine auf den Alltag ausgerichtete Therapie, die auch die Erfüllung sozialer Rollen miteinschließt (Hoffmann et al. 2010a).

Alltagsorientierte kognitive Ergotherapie wird üblicherweise bei Rehabilitanden in Phase C eingesetzt. Sie lässt sich, wenn auch nur in begrenztem Maß, auf die Frührehabilitation übertragen. In die ergotherapeutische Behandlung fließen kognitiv-übende Verfahren mit ein und werden in das alltagsorientierte Handlungskonzept integriert (▶ Übersicht 6.4). Diese Verfahrenkombination findet sich im Konzept der handlungsorientierten Diagnostik und Therapie (HODT) wieder.


6.6.2.3 Evidenz: Ergotherapeutische Interventionen


Für evidenzbasierte ergotherapeutische Interventionen liegen nur wenige Studien vor. In Übersichtsarbeiten von Steultjens et al. (2003) und Hoffmann et al. (2011) werden Studien identifiziert, die die Wirksamkeit der Ergotherapie in Bezug auf die Förderung der Aktivitäten des täglichen Lebens und die Kognitionstherapie positiv belegen.


6.6.2.4 Handlungsorientierte Diagnostik und Therapie (HODT)


HODT ist ein spezifisches ergotherapeutisches Konzept für die Behandlung neuropsychologischer Störungen, das auch für die Rehabilitationsphase B geeignet ist. Die Handlung bzw. die Alltagshandlung wird als zentrales Element für Befunderhebung und Behandlung betrachtet (Kolster 2002). Je nachdem, wie die Störung das Alltagsverhalten des Rehabilitanden beeinflusst, werden ggf. zunächst isoliert kognitive Basisfähigkeiten trainiert und anschließend in Alltagssituationen integriert (Kolster 2011) (▶ Übersicht 6.3). Die Behandlung bezieht sich auf



  • visuelle Wahrnehmungsstörungen,


  • räumliche Störungen,


  • Störungen des Handelns,


  • den Neglect und


  • das fehlende Störungsbewusstsein.

So können z. B. in Kooperation mit der Neuropsychologie kognitive Grundfunktionen (Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis) trainiert werden. Im Verlauf wird der Schwierigkeitsgrad erhöht, und die Anforderungen werden komplexer. Die zuvor isoliert trainierten kognitiven Funktionen werden schrittweise in Alltagssituationen übertragen. Ist im Verlauf eine Restitution der Funktionen nicht möglich (▶ Übersicht 6.3), zielt die Behandlung auf die Vermittlung von Kompensationsstrategien oder die Adaption der Funktionsbeeinträchtigung an die Umwelt ab (Hoffmann et al. 2010b).

Unzureichendes bis fehlendes Störungsbewusstsein und die fehlende Bereitschaft, sich als Rehabilitand therapieren zu lassen, beeinflusst die kognitive, sprachliche und motorische Rehabilitation, den Rehabilitationsverlauf und das rehabilitative Outcome negativ. Da diese Konstellation in der klinischen Praxis häufig zu beobachten ist, für eine erfolgreiche Therapie aber ein intaktes Störungsbewusstsein Voraussetzung ist, wird das Thema eingehender betrachtet.


6.6.3 Kognitive Ergotherapie bei fehlender Krankheitseinsicht


Die aus der neurologischen Schädigung resultierenden Störungen sind sehr vielfältig und können das Leben des betroffenen Menschen in dramatischer Weise verändern. Die Schädigung tritt meist unerwartet auf, und ohne die Möglichkeit, sich langsam daran zu gewöhnen, wie dies auch für das Fallbeispiel (Herr B.) gilt. Für den Betroffenen bedeutet es oft eine Lebenskrise; daher ist es wichtig, die Erkrankung zu verarbeiten, neue Sichtweisen zu gewinnen und diese in das eigene Selbstkonzept und letztlich in den eigenen Lebensplan zu integrieren. Grundlegend ist die Auseinandersetzung mit der Erkrankung im Sinne einer Krankheitsverarbeitung. Bei neurologischen Erkrankungen ist häufig das fehlende Störungsbewusstsein für die aus dem neurologischen Ereignis resultierende Beeinträchtigungen kennzeichnend.


6.6.3.1 Bedeutung des Störungsbewusstseins und der Krankheitsverarbeitung für den therapeutischen Prozess


Meist geht mit dem neurologischen Ereignis nicht nur der Verlust der körperlichen Integrität einher, sondern auch der Verlust, selbstbestimmt und autonom zu entscheiden, sowie der Verlust sozialer Rollen. Es liegen Abhängigkeit von Fremdhilfe sowie auch Beeinträchtigungen mentaler Fähigkeiten vor, z. B. die Fähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern, den täglichen Alltag zu planen, logisch zu denken und zu urteilen und situationsbedingt auf Gesprächsinhalte zu reagieren. Kognitiv beeinträchtigte Personen können oftmals die aus der Erkrankung resultierenden Folgen nicht richtig einschätzen und die Geschehnisse ihrer Umwelt nicht richtig einordnen. Häufig kommt es zu einem Kontinuitätsbruch im Erinnerungsvermögen, zu Fehleinschätzungen von Situationen und des eigenen Leistungsvermögens (Lucius-Hoene 2008).

Die Krankheitsverarbeitung nach einem neurologischen Ereignis ist von vielen Variablen abhängig. Sie kann beeinflusst werden durch/von



  • neuropsychologische Störungsbilder in Abhängigkeit von den zerebralen Schädigungsgebieten,


  • die Krankheitseinsicht (Kallert 1992),


  • eine organisch-psychische Komponente,


  • reaktiv-psychische Störungen,


  • der Selbstwahrnehmung,


  • der kognitiven Leistungsfähigkeit,


  • Persönlichkeitsmerkmalen,


  • dem sozialem Netzwerk und


  • bisherigen Krisenerfahrungen (Beckson u. Cummings 1991).


6.6.3.2 Krankheitseinsicht und Verhalten


Krankheitseinsicht (Awareness) bezieht sich auf eine adäquate Einstellung und Haltung gegenüber krankhaften Veränderungen und darüber hinaus auf die eigene Wahrnehmungsfähigkeit, dass eine Erkrankung vorliegt. Dies schließt auch die Fähigkeit mit ein, die Art und Schwere der Erkrankung richtig zu beurteilen und einzuschätzen.

Das Einschätzen der Krankheitseinsicht folgt nicht dem Gegensatz vorhandene oder nicht vorhandene Krankheitseinsicht, sondern bei Vorliegen fehlender Krankheitseinsicht sind Graduierungen möglich (▶ Übersicht 6.4; Kolster 2002). Krankheitseinsicht steht für die Fähigkeit,



  • pathologische Symptome wahrzunehmen,


  • sie zu beschreiben und


  • sie als krankhaft zu bewerten.

Dies beinhaltet, eine Vorstellung über die Ursache der Störung bzw. Krankheit zu haben, den Wunsch, Hilfe zu suchen, und die Bereitschaft, sich behandeln zu lassen. Im Rahmen der späteren Krankheitsverarbeitung kommt es zu einer Integration des Krankheitsschicksals in das Selbstkonzept, wodurch sich neue Lebensperspektiven entwickeln können.


Übersicht 6.4. Abstufungen fehlender Krankheitseinsicht





  • Globale Unawareness:



    • Nichtwahrnehmen bzw. Leugnung der Störung


    • Überraschte Reaktion auf Demonstration und Erläuterung des Defizits durch den Untersucher


  • Informelle Awareness:



    • Der Rehabilitand beschreibt sein Defizit verbal. Dies hat jedoch keine Konsequenz für die Handlung


  • Auftauchende Awareness:



    • Das Defizit wird im Moment eines Versagens wahrgenommen


  • Vorausschauende Awareness:



    • Der Patient ist sich des (motorischen, sprachlichen oder kognitiven) Defizits bewusst und berücksichtigt es entsprechend im Alltag


    • Er kann daraus Konsequenzen für sich und andere ableiten und vorausschauend planen

(Kolster 2002)

Für eine Vielzahl von Alltagsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten, die bei neurologisch geschädigten Rehabilitanden beobachtet werden können, sind fehlende Krankheitswahrnehmung und kognitive Defizite verantwortlich. Die Störungen kognitiver Funktionen betreffen z. B.



  • Wahrnehmung,


  • Erkennen,


  • Vorstellen,


  • Denken,


  • Gedächtnis,


  • Handlungsplanung und


  • Aufmerksamkeit.

In der frühen Phase der neurologischen Rehabilitation sind die Rehabilitanden aufgrund der begrenzten kognitiven Leistungsfähigkeit und der Bewusstseinsminderung meist noch völlig fremdbestimmt und abhängig von pflegerischen und therapeutischen Leistungen zur Alltagsbewältigung. Sie reagieren auf ihre Umwelt durch Verletzung sozialer Verhaltensnormen, können Bedürfnisse anderer Personen nicht wahrnehmen und weisen oft eine geringe Frustrationstoleranz auf (Gauggel 1997).


6.6.3.3 Der Begriff „fehlende Krankheitseinsicht“


Der Begriff „fehlende Krankheitseinsicht“, auch als Unawareness oder Anosognosie bezeichnet, ist im engeren Sinne die beeinträchtigte Fähigkeit zur Einsicht aufgrund neurokognitiver Funktionsstörungen. Die Rehabilitanden zeigen in der Praxis eine verminderte oder sogar fehlende Einsicht bzgl. ihrer Beeinträchtigungen auf verschiedenen Ebenen.

Die fehlende Krankheitseinsicht tritt bei unterschiedlichen Krankheitsbildern auf, wie z. B. bei/nach



  • Schlaganfall,


  • Schizophrenie oder bipolaren Erkrankungen (Surguladze u. David 1999),


  • Demenzen und


  • schwerem Schädel-Hirn-Trauma (McGlynn u. Schacter 1989; Prigatano 2009).

Sie wird auch als Begleitsymptom für neuropsychologische (Neglect, Aphasie, Agnosie) und neurologische Symptome (kortikale Blindheit [Anton-Syndrom], Hemianopsie und Hemiparese) beschrieben (Celesia et al. 1997; Poeck 1997).


6.6.3.4 Erklärungsmodelle für das fehlende Störungsbewusstsein


Die Genese der fehlenden Krankheitseinsicht wie auch die Läsionslokalisation sind noch nicht hinreichend geklärt (Gauggel 2008). Zu den Ursachen fehlender Krankheitseinsicht gibt es eine Vielzahl von Annahmen, wahrscheinlich ist sie multifaktoriell bedingt.

Bei fehlender Krankheitseinsicht nach Schlaganfall sind verschiedene Läsionsgebiete in den präfrontalen, temporoparietalen und thalamischen Hirnregionen beschrieben worden, jedoch lässt sich bislang keine für Anosognosie allein verantwortliche Hirnregion bestimmen (Orfei et al. 2007). Allerdings lässt sich festhalten, dass es nach Läsionen der rechten Hemisphäre (gegenüber der linken) zu gehäuftem Auftreten eines fehlenden Störungsbewusstseins kommt (Karnath 2006). Anosognosie kann sich auf alle Symptome der Krankheit beziehen. So ist fehlende Einsicht für Gedächtnisdefizite, motorische Funktionsstörungen, Sprachstörungen sowie Fähigkeitsstörungen in den Bereichen der Körperhygiene, des Be-/Entkleidens und der Mobilität im Alltag zu beobachten. Dabei ist die Anosognosie häufig nicht für alle Funktionsstörungen gleichermaßen ausgeprägt.

Das klinische Bild der fehlenden Krankheitseinsicht wird anhand des nachfolgenden Fallbeispiels (Herr B.) dargestellt.


6.6.3.5 Klinisches Bild fehlender Krankheitseinsicht: Fallbeispiel



6.6.3.6 Phase I: Emotionale Stabilisierung und Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung bei fremdbestimmter Autonomie


Wie fühlt sich Herr B. als Betroffener, wie verändert sich die Wahrnehmung der Umwelt, die Beziehungen zu anderen Menschen, das Verhältnis zu sich selbst?


Zustand des Minimal Conscious State (MCS)

Herr B. war über einen Zeitraum von 6 Wochen in einem Bewusstseinszustand des Minimal Conscious State (MCS). Er war in dieser frühen Erholungsphase noch kaum in der Lage, sich selbst zu äußern und einem Außenstehenden seine Befindlichkeit mitzuteilen. Die über diesen Zeitraum bestehende Bewusstseinsstörung und die ausgeprägte Tetraparese limitierten seine Kommunikationsmöglichkeiten in erheblichem Maß.


Beobachtung der Veränderungen

Seit der 7. Behandlungswoche zeichnen sich nun Veränderungen auf der motorischen, sprachlichen, emotionalen und behavioralen Ebene ab, die sich wie folgt beschreiben lassen:

In Bezug auf die motorischen Fähigkeiten ist Herr B. nun in der Lage, sich eigenständig im Bett zu drehen und sich aus der Seitenlage in eine sitzende Position zu manövrieren. Die psychomotorische Unruhe mit ständigem unbewussten Ziehen am Bettgitter und das Ziehen an den Verkabelungen des Monitors kennzeichnen sein Verhalten. Er agiert dabei sehr vorschnell und kann die Konsequenzen seines motorischen Handelns nicht abschätzen. Da die posturale Kontrolle des Rumpfes noch nicht ausreicht, benötigt er in sitzender Position taktile Führung des Rumpfes. Ein selbständiger Transfer ist nicht möglich. Herr B. kommt zwar mit Unterstützung von Hilfspersonen in den Stand, kann das betroffene rechte Bein aber nicht selbständig setzen.

In den Bereichen des Be-/Entkleidens und der Körperhygiene ist Herr B. in der Lage, geführte und verbal instruierte Handlungen auszuführen. Er benötigt dabei eine reizarme Umgebung und klare Anweisungen.

Mit dem Rollstuhl fährt Herr B. ohne Beaufsichtigung völlig planlos und wild auf Stationsebene umher und prallt ständig gegen Wände oder fährt unabsichtlich und ohne bewusste Wahrnehmung Passanten an. Die kognitiven Probleme werden von ihm noch nicht bewusst wahrgenommen. Nach den Beobachtungen und Interpretationen des Behandlungsteams erlebt Herr B., aufgrund



  • der fehlenden Krankheitseinsicht,


  • der vollständigen Desorientierung,


  • der Störung der Handlungsplanung,


  • der Gedächtnisstörungen und


  • der noch bestehenden Bewusstseinsstörung,

seine Umwelt und sich selbst nur fragmentarisch. Selbst dann, wenn ihm plötzlich die Tasse aus der Hand fällt oder er konfabuliert, geht er davon aus, doch eigentlich alle Dinge noch wie vorher zu können, und er realisiert nicht, wenn ihm seine Umwelt völlig ratlos und fragend gegenübersteht. Er lebt noch in völligem Unverständnis dessen, was geschehen ist, und was ständig an ihm und um ihn herum passiert. Vieles von dem, was ihn als Person ausgemacht hat, ist in dieser Phase nach Angaben der Ehefrau völlig verändert. Seine emotionalen Befindlichkeiten, sein Temperament, seine Gewohnheiten, seine ruhige Art im Umgang mit anderen Menschen und seine Beziehungsfähigkeit haben sich erheblich gewandelt.

Nach weiteren 3 Wochen Behandlungszeit kommt es zu einer Veränderung seines bewussten Erlebens der Umwelt. Er kann Informationen aufnehmen, kognitiv verarbeiten und nimmt gezielt Kontakt mit der Umgebung auf.


6.6.3.7 Phase II: Förderung der Krankheitswahrnehmung, Verhaltensregulation, Aufbau einer Kooperationsbereitschaft und Verbesserung der kognitiven Defizite


Wie verändert sich die Wahrnehmung zur Umwelt und die Beziehung zu sich und zu anderen Menschen in einer Phase, in der sich erste Schritte eines bewussten Erlebens und Verarbeitens von Informationen abzeichnen?


Beobachtung des Verhaltens

Das Verhalten von Herrn B. ist in dieser Phase gekennzeichnet durch eine erste bewusste und gezielte Kontaktaufnahme mit dem Behandlungsteam und den Angehörigen, mit gezielten Forderungen, Wünschen und dem Ausdruck von Bedürfnissen. Seine Kognitionsleistungen sind weiterhin stark beeinträchtigt. Zu seiner Person ist Herr B. teilorientiert. Autobiographische Bezüge sind in Ansätzen abrufbar, zur Situation sowie auch zu Ort und Zeit ist er nicht orientiert. Aufgrund der eingeschränkten Konzentration sowie der Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit und des Kurzzeitgedächtnisses müssen Fragen oder Anweisungen oft wiederholt werden. Die Frustrationstoleranz von Herrn B. ist sehr niedrig. In der Therapie reagiert er oft aggressiv und wütend, wenn ihm etwas nicht passt.

Bei der Durchführung der Körperhygiene und des Bekleidens ist Herr B. größtenteils auf Hilfe angewiesen. Dabei versteht er nicht, warum ständig Menschen um ihn herum sind, die ihn instruieren, was er machen soll.

→ Die klinischen Beobachtungen und Befragungen des Rehabilitanden zeigen eine fehlende Krankheitseinsicht für die bestehenden motorischen und kognitiven Beeinträchtigungen, die seine Handlungskompetenzen erheblich limitieren.

Die im Alltag erlebten Erfahrungen führen bei Herrn B. zu einer tiefgreifenden Identitätskrise, wie die Bemerkungen „Ich erkenn’ mich so gar nicht wieder“, „Ich weiß nicht mehr so richtig, was passiert ist, und wer ich bin“ vermuten lassen. Bei Herrn B. zeichnen sich Verunsicherung und Ratlosigkeit ab, weil er allem hilflos gegenübersteht und ständig auf Hilfe von anderen angewiesen ist. Er reagiert mit Wut auf andere und lehnt phasenweise auch die Physiotherapie kategorisch ab: „Lasst mich in Frieden!“, sind seine Worte. Die ständige Konfrontation mit den Defiziten und Problemen im Alltag und die Kompetenzverluste gehen mit Schuldgefühlen wie auch mit Wut gegen sich selbst und gegen andere einher. In dieser Zeit werden ihm vertraute Personen und Bezugspersonen des Behandlungsteams, die ihn in seiner jetzigen Verfassung unbefangen annehmen, sehr wichtig. Er erhält damit Rückmeldung über sein Verhalten durch andere und lernt dadurch, die Situationen zu verstehen und zu begreifen.

→ Erst in Phase II ist es möglich, an der noch fehlenden Krankheitseinsicht zu arbeiten.

Zuvor hatte Herr B das unmittelbare Umfeld und die an ihn gestellten Anforderungen nicht bewusst realisiert. Er beginnt erste Fragen zu stellen, was seinen Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik betrifft, warum er denn hier sei, und was die Menschen, die ihn ständig begleiten, denn von ihm wollen.


Therapeutischer Ansatz

Voraussetzung für Einsicht und Kooperationsbereitschaft, an den Behandlungsangeboten teilzunehmen, ist die Wahrnehmung der vorhandenen Defizite. Der Behandlungsschwerpunkt ergotherapeutischer und neuropsychologischer Interventionen in Phase II konzentriert sich auf die Erarbeitung dieser Krankheitseinsicht.


6.6.3.8 Ergotherapeutischer Behandlungsansatz bei fehlender Krankheitseinsicht


Von der Einsicht in die vorhandenen Defizite und die Bewältigung der Krankheitsfolgen können der Erfolg der einzeltherapeutischen Maßnahmen im Verlauf und auch der Gesamterfolg der Rehabilitation abhängen. Ziel der ergotherapeutischen Behandlung bei Rehabilitanden, die kognitive, emotionale und behaviorale Störungen aufweisen, ist es, dass sie lernen, die vorhandenen Defizite, aber auch ihre Fähigkeiten wahrzunehmen und einzuschätzen, um darauf basierend ihr Verhalten im Alltag abzustimmen. Darüber hinaus ist es Bestandteil der ergotherapeutischen Behandlung, den Rehabilitanden bei der subjektiven Krankheitsverarbeitung zu begleiten, neue Handlungsalternativen zu erarbeiten und ihn bei der Entwicklung neuer Lebenspläne zu unterstützen.


6.6.3.9 Diagnostik/Erfassungsmethoden für fehlende Krankheitseinsicht


Die Beurteilung der fehlenden Krankheitseinsicht erfolgt durch



  • klinische Verlaufsbeobachtungen und


  • teilstandardisierte Gespräche mit dem Rehabilitanden.

Um einen Eindruck der Introspektionsfähigkeit des Rehabilitanden und seiner subjektiven Sicht zum Krankheitserleben zu bekommen, lässt man ihn von sich berichten z. B. über



  • sein Leben vor der Erkrankung,


  • den Grund des jetzigen Rehabilitationsaufenthalts,


  • seine bisherigen Erfahrungen und Probleme nach dem Krankheitsereignis sowie


  • seine Vorstellungen, Ziele und Erwartungen an die Rehabilitation.

Die Gesprächsinhalte werden in einem Therapieprotokollbuch festgehalten, sie skizzieren die Gedankenwelt des Betroffenen.

Eine 4-stufige Skala nach Karnath (2006) ermöglicht die Einschätzung der Schwere der fehlenden Krankheitseinsicht (◘ Tab. 6.1). Die Punktwerte 2 und 3 zeigen fehlende Krankheitseinsicht an. Basierend auf einem halbstandardisierten Interviewleitfaden (◘ Tab. 6.2) wird die Einsicht des Rehabilitanden durch eine Person aus dem Behandlungsteam (z. B. ein Arzt, ein Psychologe oder ein Ergotherapeut) auf einer Skala eingeschätzt und nach dem Schweregrad (◘ Tab. 6.1) gewichtet.


Tab. 6.1.
Klinische Skala zur Beurteilung der Krankheitseinsicht
























Punkte

Klinischer Befund

0

Die Funktionsstörung oder die daraus resultierende Beeinträchtigung der Aktivität wird spontan berichtet

oder

Über die Störung und die daraus resultierende Beeinträchtigungen wird berichtet, nachdem vom Untersucher nach dem Grund für den Rehabilitationsaufenthalt gefragt wurde

1

Die Störung wird erst nach einer gezielt gestellten Frage berichtet, welche die betroffene Funktionsstörung anspricht

2

Die Störung wird erst erkannt, nachdem sie dem Rehabilitanden (z. B. in der Untersuchungssituation) demonstriert und kommentiert wurde

3

Kein Erkennen der Störung, auch nicht nach der Demonstration

(In Anlehnung an Karnath 2006)



Tab. 6.2.
Fragen zur Erhebung des Schweregrads des Störungsbewusstsein


















































Fragestellung

Hilfestellung für die Gesprächsgestaltung

Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens

Therapeut stellt allgemeine Fragen zum Grund des Rehabilitationsaufenthalts:

Was ist der Grund, weshalb Sie in unsere Rehaklinik eingeliefert wurden? Was ist passiert? Was wissen Sie über ihre Erkrankung? Kam die Erkrankung denn plötzlich? Hatten Sie denn einen Unfall oder einen Schlaganfall?

Offene Fragestellung

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

Keine Reaktion, fragende Blicke

Therapeut gibt Hilfestellung: engere Fragestellung

Ich habe gehört, Sie hatten einen Schlaganfall? Was wissen Sie darüber? Was fällt Ihnen an sich auf? Was funktioniert nicht mehr so wie früher? Was hat sich verändert?

Bei fehlender Reaktion Hinweise geben: Fragestellung enger fassen, ggf. Behauptungen aufstellen und auf Reaktion warten

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

„Ich weiß es nicht, ich würde es Ihnen gerne sagen, ich kann´s Ihnen nicht sagen.“

Hinweis auf den Grad fehlender Krankheits-wahrnehmung

Brauchen Sie momentan Hilfe von anderen Personen? Können Sie alleine gehen? Können Sie sich ohne Hilfe waschen oder ankleiden? Können Sie alleine zur Toilette gehen?

Therapeut gibt Hilfestellung: Behauptung

Mir fällt auf, dass Sie nicht alleine gehen können und Hilfe benötigen, stimmt dies?

Dem Betroffenen die Situation spiegeln

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

„Ja stimmt, habe ich auch schon bemerkt.“

Phase der aufbrechenden Emotionen

Therapeut spricht die kognitive und emotionale Innenansicht an:

Belastet Sie die Tatsache, dass Sie die Dinge nicht wie früher erledigen können? Denken Sie momentan viel nach? Machen Sie sich Gedanken, wie Ihre weitere Zukunft aussehen kann?

Zuhören, empathisch sein: Gefühle wie Angst, Wut oder Verzweiflung dürfen geäußert werden

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

„Nein.“ oder „Ja, klar belastet mich dies.“

„Verschwinden Sie, Sie können nichts für mich tun!“

Phase des Loslösens und Integration eines veränderten Selbstbilds

Therapeut versucht herauszufinden, ob ein Abschiednehmen von der ursprünglichen Lebensplanung stattgefunden hat:

Fällt es Ihnen schwer, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass z. B. eine körperliche oder sprachliche Beeinträchtigung zurückbleibt?

Ressourcen und Fähigkeiten im Gespräch hervorheben

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

– „Was soll ich nur machen, ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen kann!“

– „Ich suche mir ein neues Hobby.“

– „Was hab ich denn für eine Erkrankung?“

Hinweis auf den Grad fehlender Krankheitswahrnehmung

Positives Zeichen, wenn der Rehabilitand beginnt, Fragen zu stellen

Therapeut versucht herauszufinden, ob der Rehabilitand dem Leben trotz der bestehenden Behinderung positive Seiten abgewinnen kann:

Was werden Sie nach der Entlassung aus der Klinik machen? Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor? Haben Sie schon Ideen, wie Sie ihren Tag verbringen werden?

Positives Selbstbild stärken und neue Lebensziele inhaltlich besprechen

Antwort/Reaktion des Rehabilitanden:

„Ja, ich werde mit meiner Frau vormittags unsere Enkeltochter betreuen.“

Eine weitere Vorgehensweise für die Erhebung fehlender Einsichtsfähigkeit in kognitive Defizite ist der Abgleich einer neuropsychologischen Testleistung mit der Selbsteinschätzung des Rehabilitanden. Hier wird die Diskrepanz zwischen Leistung und Selbsteinschätzung als Indikator für fehlende oder unzureichende Krankheitswahrnehmung betrachtet. Leistungsdiskrepanzen bei testpsychologischen Befunden eignen sich nur für die Erfassung von fehlender Krankheitseinsicht für kognitive Defizite, eine Generalisierung ist daraus nicht abzuleiten.


6.6.3.10 Therapieziele


Nach der Befunderhebung werden die zentralen Ziele (▶ Übersicht 6.5) gemeinsam mit dem Rehabilitanden erarbeitet, mit dem Behandlungsteam abgestimmt und festgelegt. Verfügt der Rehabilitand nicht über ausreichendes Störungsbewusstsein und ist nicht in der Lage, realistische Therapieziele zu formulieren, legt das Behandlungsteam in Abstimmung mit den Angehörigen die Ziele fest. Zu den zunächst meist fremdbestimmten Zielen können im Verlauf dann selbstformulierte Ziele hinzukommen, insbesondere, wenn eigene Defizite erkannt und realistisch beurteilt werden. Der Zielsetzungsprozess wird dabei als ein Behandlungselement in der Bearbeitung der Krankheitswahrnehmung verstanden. An diesem sind nicht nur der Rehabilitand selbst, sondern auch die Angehörigen beteiligt.

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Dec 11, 2016 | Posted by in NEUROLOGY | Comments Off on Therapie von kognitiven und Verhaltensstörungen in der Frührehabilitation

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